Volltext: Linzer Hessen

Mildtätige deutsche und ungarische Lrauen, die in Kiew 
ansässig waren besuchten ihre Kriegsgefangenen Landsleute 
im Spital und verteilten Lebensmittel und Wäsche. 
Das Pastorenehepaar in Kiew muß hier an erster Stelle 
erwähnt werden, während er sich bei den russischen Kom¬ 
manden um die Derbcsserung unserer Lage tatkräftigst ein¬ 
setzte und auch viel erreichte, hatte sie die Wartung der an 
Igphus und Dysenterie erkrankten Kriegsgefangenen über¬ 
nommen und von früh morgens bis spät abends übermensch¬ 
lich gearbeitet. Ihrem Beispiel folgten dann auch noch mekrere 
deutsche Zrauen. In Kiew traf ich im Spital mit den beiden 
verwundeten Degimentskameraden Dberstleunant lenner und 
Major kakler zusammen, welch ein trauriges wiedersehen! 
wir glaubten uns damals schon so furchtbar weit von der 
Heimat und hatten noch keine flhnung, was uns noch alles 
die Zukunst bringen sollte. 
Dach 14tägigem flufenthalt in Kiew wurden wir in drei¬ 
tägiger Lisenbahnfahrt nach Moskau transportiert und in das 
sogenannte Lvakuierungsspital an der Peripherie dieser 
Mesenstadt gebracht, von der mir nur die zahlreichen goldenen 
kuppeln der Kirchen in Lrinnerung geblieben sind. Dort 
verblieben wir zirka 14 Lage, um dann nach Ivanowo- 
wosnosensk, nabe an der Wolga abgeschoben zu werden. 
Hier traf uns die Hiobspost, daß alle deutschen Kriegsge¬ 
fangenen nach Sibirien deportiert und einer besonders stren¬ 
gen Dei>andlung nach speziellen Dorschristen unterworfen 
werden. 
Der Sedanke nach Sibirien zu wandern, in das Land das 
wir nur als Schreckensgespenst aus den russischen Domänen 
kannten, wirkte aus uns niederschmetternd. Line schwere 
Semütsdepression, die schon an Melancholie grenzte bemäch¬ 
tigte sich aller, und ich verhehle es nicht, daß auch mir dicke 
Iränen über die Wangen rollten, als ich die Schreckenskundc 
vernahm. war es denn bei der Sröße des russischen Deiches 
und seines damaligen Deichtums an Lebensrnitteln notwendig, 
uns so furchtbar weit in die entlegensten und berüchtigtsten 
Scbiete der Welt zu verschleppen? Ls lag schon eine gewisse 
flbsicht in dieser Derordnung. Und tatsächlich sind auch 
wäsirend der endlosen Lisenbaiinfakrt viele Derwundete und 
kranke an die Spitäler und Irrenhäuser abgegeben worden, 
aus denen sie nur mehr der Zriedhof befreite. 
Durch Sibirien 
nach tliabarowsk—krasnaja-Djetschka 
flls wir die weite sibirische Heise antraten, war niemand 
über unser Deiseziel informiert. Man schob uns von einem 
Souvcrnement in das andere. Der einzige Sedanke, der uns 
noch aufrecht erhielt war, daß man hoffte von der Dstküste 
flsiens bald per mare die Heimreise anzutreten, denn an ein 
mehrjähriges Lril dachte damals natürlich keiner. Don der 
ganzen Deise blieben mir nur im Sedächtnisse: die endlosen 
Schneeseider beiderseits der oft Hunderte von Werst langen 
kerzengeraden Lisenbahnstrecken, die furchtbar breiten Zlllsse 
mit ihren Überschwemmungsgebieten, und die Linförmigkeit der 
ganzen Segend, die nur durch die spärlichen Städte und fln- 
siedlungen unterbrochen wurde. Die Übersetzung des Urals 
hat uns direkt enttäuscht. Da die Datzntrasse über denselben 
in einer breiten lalsenkung führt, hat man nicht das Lmp- 
sinden ein so mächtiges Sebirge zu überschreiten. 
Erst beim vielbesungenen Daikalsee wurde es etwas ab¬ 
wechslungsreicher,' doch sieht man auch nur einen Teil der 
Segend, da die Zahlt bloß das äußerste Südende des Sees 
berührt und einen lag und eine Dacht dauert, fluch die sehr 
häufigen lunnels verhindern stark den flusblick. liefernst und 
düster breitet sich der heilige See aus — wie er dort zu 
Lande genannt wird. Lr ist von Bergen und Schneegipfein 
eingerahmt. Die zahlreichen Zijcherhütten deuten auf die Be¬ 
siedlung des Ufers. Uber die flusdehnung des Sees macht 
man sich nur einen Begriff, wenn man bekannte Srößen zum 
Dergleiche nimmt. Der Baikalsee hat ungefähr den Zlächen- 
raum wie Dieder- und Dberösterreich zusammengenommen. 
Interessant dagegen waren die chinesischen Städte in der 
Mandschurei. Zur Durchquerung dieser Diesenprooin; brauch¬ 
ten wir allein eine volle Woche. Das mächtige Lhingangebirge 
erinnert, was flnlage der Bahntrasse mit Schleifen und 
kehren betrifft, stark an eine Semmeringfahrt. Die chinesischen 
Bahnhöfe mit ihrem geschäftigen Leben, Ireiben und Dassen¬ 
gemisch, verscheuchten auf einige Zeit unsere trüben Bedanken. 
So erreichten wir endlich nach 29tägiger ununterbrochener 
Lisenbahnfahrt erschöpft und zermürbt Dikolsk-Ussurisk, ein 
großes Militärlager mit ausgedehnten kasernbauten, Maga¬ 
zinen, Werkstätten usw., das seinerzeit wegen Japan ange¬ 
legt worden war. Überhaupt das ganze Land priamurs-kaja 
hatte schon seit dem russisch-japanischen Kriege eine starke 
militärische Besatzung. Dikolsk-Ussurisk ist nur mehr drei 
Stunden Lisenbahnfahrt von Wladiwostok und vom Stillen 
Dzean entfernt. Dach 14tägigem flusenthalt wurden wir 
noch weitere 600 Werst, mit der gegen Dorden führenden 
Zweigbahn, nach Lhabarowsk gebrach«. Diese Stadt war 
damals die äußerste Lisenbahnendstation in Dordostasien. 
Heute aber ist Lhabarowsk, da die flmurbahn von Kriegsge¬ 
fangenen ausgebaut wurde, der Scheitelpunkt einer gewal¬ 
tigen Bahnschleife, mit der man über den Dordrand der 
Mandschurei dem flmur entlang, zurück bis karimskaja 
östlich Ischita, wieder die transsibirische Lisenbahn, also die 
Hauptlinie erreicht. 
Lhabarowsk liegt malerisch am Zusammenflüsse der bei¬ 
den mächtigen und ungemein fischreichen Zlüsse flmur und 
Ussurl. Die Stadt, die den Damen nach ihrem Sründer dem 
Kaufmann Lhabarow trägt, hat rund 50.000 Linwohner, zu¬ 
meist Lhinesen, dann Duffen, Koreaner, Japaner, kamtschada- 
len, lungusen, flinos usw. und ist im mächtigen Lmporblühen. 
Man ist ganz überrascht, im fernen Osten eine so europäisch 
anmutende Stadt mit hübschen Wohngebäuden, Hotels, Ban¬ 
ken, höheren Lehranstalten, Lgzeum, Museum, schönen Park¬ 
anlagen und elektrischer Beleuchtung zu finden. Die großen 
russischen Warenhäuser Ischurin — Kunst & fllbers haben 
wie in allen sibirischen Städten auch hier ihre Zilialen, in denen 
man alles bekommt. Ischurin hat an den Kriegsgefangenen 
besonders ergiebige flusbeutungsobjekte gefunden. Ls ge¬ 
lang ihm den fllleinverkauf, durch Bestechung der maßgebenden 
Personen an sich zu reißen, fluch die weltbekannte Zirma 
„Singer-Dähmaschinenfadrik" hat hier eine Diederlassung 
und ich war nicht wenig erstaunt, als mir ihr Dertreter 
erzählte, daß sie sogar in Kamtschatka, wohin keine Landver- 
bindung besteht, ihre Zilialen besitzt. Der Iransport dorthin 
erfolgt nur im Winter auf Hundeschlitten bei flusnützung 
der gefrorenen Zlußläufe. Line Kleinbahn vom russischen Liscn- 
bahnregimente erbaut, brachte uns nach zirka einstündiger 
Zahlt nach krasnaja-Djetschka, zu deutsch das „rote Zlüß- 
chen". Ls ist nur ein großes Militärlager dort und hat als 
Dachbardorf Dowo-fllerandrowsk, eine kleine chinesische 
Zischeransiedlung. fluf einer abgesteckten waldfläche wurden 
alle Kasernen und Werkstätten errichtet, flls wir hinkamen, 
waren sie noch ganz unfertig. krasnaja-Djetschka ist von 
unserer Heimat zirka 12.000 Kilometer entfernt. Dies ent¬ 
spricht 22mal der Strecke Wien—Innsbruck. Die Zeitdifferen; 
betrug 8 Stunden oder in die bürgerliche lageseinteilung 
übersetzt: wenn wir uns im fernen Dsten zur Duhe begaben, 
setzten sich unsere Lieben in der Heimat erst zum Mittagstische. 
Dienstbetrieb 
In jedem Lager unterstanden die Kriegsgefangenen dem 
Woinskg-Datfchalnik, das heißt oberster Militärkommandant, 
der gewöhnlich die obersten- oder Seneralscharge bekleidete, 
dann dem eigentlichen Lagerkommandanten einen Stabs- 
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