Volltext: Mappe I: In den Karpathen (Mappe 1 ; / 1916)

20'23 Q Noch anders verhalten sich die galizischen Juden. Ihnen entfährt, wenn sie 
aus ihren düsteren Wohnungen fort müssen, kein Trauerlaut. Ihnen steckt das 
Leiden, stummes Duldenmüssen im Blut. Die dumpfe Resignation dieser Menschen 
ist ergreifend, denn in all den finsteren Zimmerchen fanden sich immer irgend 
einige Bücher aufgestapelt, ist immer ein oder das andere Anzeichen geistiger 
Kultur vorhanden und damit die Gewißheit, daß der Wechsel, der Zwang zur 
Flucht tiefe Wunden schlägt. Aber geklagt wird nicht. Der Jude, der sozusagen im 
Hörbereiche des russischen Kommandos lebt, weiß, was das Leben in der Fremde 
ihm bringen kann. Diese Flüchtlinge sind vielleicht die Ärmsten unter den Arx 
men, weil sie wissend in die Fremde, in das Elend ziehen. Sie rasten auch nie lange, 
sie schließen sich nur unserem Train an und schlängeln sich mit ihren kleinenWä' 
gelchen und zähen Pferdchen durch das Gewühl vonTroß und Mannschaft, um sorasch 
wie möglich die nächste größere Stadt zu erreichen. Erst dort fühlen sie sich sicherer,erst 
dort, wissen sie, kann ihnen Schutz und ein halbwegs menschliches Leben erwachsen. 
Wer den Krieg mitgemacht hat, hat alle Typen unserer Nationalitäten in 
Hunderten und Hunderten von Fuhrwerken auf den Heerstraßen als Flüchtlinge 
gesehen. Das Hinterland sollte diesen Unglücklichen, die der Krieg als unschub 
dige Opfer in härtester Weise getroffen hat, mit Verständnis und Mitgefühl ent' 
gegenkommen. Denn die Gebiete, die sie verlassen mußten, sind die Türen und 
Tore, durch die der Feind ins Herz des Landes eindringen wollte. Und da die 
Flüchtlinge Hab und Gut, Haus und Wohnung, Scholle, Beruf und Erwerb him 
gegeben, damit unser Besitz unangetastet bleibe und unser Leben geregelt und 
in alter Sicherheit weitergehen könne, so ist es das Geringste, was wir tun 
können, unsere Herzen und unsere Taschen zu öffnen. Denn alles, was wir diesen 
Menschen, die auf der Straße liegen, an Dankbarkeit erweisen, kann 
ihnen nur einen geringen Bruchteil dessen ersetzen, was 
sie auf unbestimmte Zeit verloren haben. 
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DIE KIRCHE VON SZTROPKO- 
Bergfahrt im Ondavatal. Links der Straße Birkenauen, an dem geröllbe' 
deckten Sandufer des Flüßchens phantastisches Weidengebüsch. Kaum ist Nagy*- 
berezsnye im Rücken, so winkt schon kilometerweit vom scheinbaren Ende des 
breiten Tales eine quer vorgelagerte Höhe, an deren Böschung die Häuschen 
von Sztropkö zu kleben scheinen. Ganz oben aber ragt wie ein Himmelsweiser 
der weiße Kirchturm empor, nein, eine Ruine. Oder doch? Im Näherkommen 
erkennt man erst deutlich die Bedeutung des Bauwerkes. Wohl ist es die Kirche, 
doch arg zerschossen. Der Turm ist beim Glockenboden wie abgebrochen, das 
Kirchenschiff ein Mauerkasten ohne Dach. Wie eine Zwingburg des Glaubens 
muß dieses Gotteshaus im Frieden über das Tal geblickt haben, weithin den 
Ausblick nach Süden beherrschend. Eine willkommene Warte den Russen, als 
sie in Sztropkö standen. Alsbald nisteten ihre Beobachtungsposten im Turm. 
Einunheiliger Auslug des Verderbens war diese Kirche. Aber das Kriegsglück wechselte. 
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