Volltext: Illustrierte Geschichte des Balkankrieges 1912 - 13 Zweiter Band (Zweiter Band / 1914)

Der Balkan nach dem Kriege. 
Krieg auf dem Balkan war cu Ende. 
War der Zustand, der nun herrschte, 
^yjlJ der Friede, oder war es nur die 
Waffenruhe, welche die Erschlaffung 
den Balkanvölkern aufgecwungen hatte? Die 
Halbinsel hatte eine ganc neue Gestaltung er 
fahren: konnten die Völker damit cufrieden sein? 
Wie war überhaupt die Stimmung auf dem 
Balkan nach der Unterzeichnung des Konstan- 
tinopler Friedens, der den Krieg eigentlich ab 
schloß? 
Der österreichisch-ungarische Botschafter Mark 
graf pallavicini, der gewiß als Kenner der 
Balkanverhältnisse betrachtet werden darf, sagte 
kuy nach dem Abschluß des Friedens Mischen 
der Türkei und Bulgarien einem Berichterstatter 
das Folgende: 
Der Friede von Konstantinopel ist unter 
allen bisherigen Verträgen derjenige, welcher 
die natürlichsten und dauerhaftesten Grundlagen 
besitzt. Leider bedeutet die türkisch-bulgarische 
Verständigung noch nicht den Balkanfrieden. 
Die Athener Verhandlungen nahmen ja, so 
viel wir wissen, bisher einen normalen Verlauf 
und man darf hoffen, daß auch sie in gegebener 
Zeit )u einem befriedigenden Abschluß führen. 
Cs wäre aber eine Selbsttäuschung, }u 
glauben, daß wir einer solchen Verständigung 
schon nahe sind. Die Verhandlungen werden 
sich voraussichtlich noch wochenlang hinziehen. 
Die Wahrscheinlichkeit, daß während ihrer 
Dauer keine störenden Zwischenfälle eintreten, 
hat mich auch veranlaßt, meine Regierung nach 
einer 2jährigen, fast ununterbrochenen Tätigkeit 
um einen Urlaub ?u ersuchen; allerdings nicht 
von 2 Monaten, sondern von 4 Wochen, wo 
bei ich auch gewärtig bin, im Rotfalle in jedem 
Moment auf meinen Posten curückcukehren. Die 
Lage ist eben noch immer derart ernst, daß 
unberechenbare Zwischenfälle, wie etwa gewisse 
Ausweisungsmaßregeln, neue Gefahren herauf 
beschwören können. 
Es ist überhaupt das bedauerlichste Ergebnis 
der Balkankriege, daß sie die Balkanverhältnisse 
nicht, wie man glaubte, vereinfacht, sondern im 
Gegenteil noch mehr kompliciert haben. Dies 
gilt sowohl vom Londoner wie vom Bukarester 
Frieden. Beide haben durch Zuweisung beträcht 
licher nationaler Minderheiten an fremdes, ja 
feindliches Staatsgebiet so unhaltbare Verhält 
nisse geschaffen, daß deren Bevölkerung, wenn 
man sie heute durch ein Plebiscit befragte, nach 
meiner Meinung ohne Unterschied der Ratio 
nalität einmütig die Rückkehr unter die türkische 
Herrschaft vorciehen würde. Das hatten die 
„Befreier" schwerlich vorausgesehen, wie denn 
überhaupt der Verlauf dieser Balkankrise alle 
Berechnungen betreffs einer radikalen Lösung 
der Orientfrage über den Haufen geworfen hat. 
Wenn es von mancher Seite voreilig war, 
der Türkei vor Ausbruch des Krieges einen 
raschen Sieg über den Balkanbund cu prophe- 
ceien, so war es vielleicht noch voreiliger, c» 
glauben, daß die Türkei nach den Riederlagen 
von Kirkkiliffe und Lüle Burgas völlig cu- 
sammenbrechend nach Asien hinübergedrängt 
werden würde. 
Im Gegenteil: die Stellung der Türkei in 
Europa ist heute durch den Wiedergewinn des 
größten Teils von Thracien derart gefestigt, daß 
sie vielleicht mehr als cuvor ein hervorragender, 
wenn nicht der stärkste Faktor auf dem Balkan 
fein wird, mit dem auch die Großmächte wieder 
cu rechnen haben werden. 
Dies ist eine Tatsache, welche in den bis 
herigen Erörterungen der öffentlichen Meinung 
Europas noch gar nicht recht cum Bewußtsein 
gekommen ist, die aber für die künftige Ge 
staltung der europäischen Beciehungen von 
größter Bedeutung bleibt. 
Im Grunde hat die Türkei durch den ersten 
unglücklichen Balkankrieg nur Albanien und 
Macedonien verloren, also jene provincen, die 
wie brandige Glieder nur an der Lebenskraft 
des Staatskörpers cehrten, im cweiten Balkan 
kriege aber die große Gefahr, daß der Londoner 
Friede sie hinter die Grenclinie Enos—Midia 
tatsächlich auf ein unhaltbares Stückchen 
Europa curückdrängen würde, erfolgreich abge 
wehrt. 
Mit der neuen Grenze hat die Türkei nicht 
nur eine natürlich politische Grenclinie er 
worben, welche keine wesentlichen bulgarischen, 
dagegen überwiegend mohammedanische Gebiete 
umfaßt und daher dauernd friedliche Beciehungen 
cu Bulgarien verbürgt, sondern auch eine stra 
tegische Position, welche nach dem Urteile mili 
tärischer Autoritäten geradecu uneinnehmbar ist,
	        
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