Volltext: Illustrierte Geschichte des Balkankrieges 1912 - 13 Zweiter Band (Zweiter Band / 1914)

Der Fall von Mrianopel. 
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Übergabe von Metz — dann darin, das) die 
schweren Belagerungsgeschütze jetzt an anderer 
Stelle zur Geltung gebracht werden können, 
obwohl zu deren Ausstellung vor der Tschatal- 
dschalinie noch geraume Zeit erforderlich sein 
dürfte, das) jetzt eine Stellung für die Bulgaren 
nicht mehr zum Schuhe der Einschließung der 
Armee nötig ist und ferner in dem Umstande, 
das) die direkte Bahnverbindung für Aachschub, 
Munitionsersatz usw. jetzt frei geworden ist. 
Das) die Türken die Bahn nachhaltig zerstört 
haben, ist bis jetzt nicht gemeldet. 
Die 70.000 Mann der Belagerungsarmee, 
wenn auch wahrscheinlich stark geschwächt, bilden 
nunmehr für die Bulgaren bei der Tschatal- 
dschastellung einen Trumpf, der bei richtiger 
Verwendung den Ausschlag geben wird. Augen 
blicklich ist ja dort schon eine Schlacht im Gange. 
Me wird aber deren Ausgang sein? Zuver 
lässige Aachrichten liegen bis heute noch nicht 
vor. 
Mit der Erstürmung der Tschataldschastel- 
lung wäre dann die Lage in ein ganz anderes 
Stadium getreten (wenn sie es nicht schon heute 
nach dem Falle Adrianopels ist), denn hiermit 
wäre das letzte Bollwerk der europäischen Tür 
kei gefallen; Skutari und Bulairbefestigungen 
haben nur sekundäre Bedeutung, die schließliche 
Entscheidung fällt immer durch die geschlagenen 
Hauptkräfte des Gegners. 
Sollten die Türken den Krieg fortsetzen 
wollen, so befinden sie sich jetzt militärisch in 
einer viel schwierigeren Lage als vor dem Fall 
Adrianopels. 
Die politischen Folgen des Falles der Festung 
sind besonders wichtig. Es fragt sich, ob der 
zielbewußte Zar von Bulgarien es jetzt noch in 
der Hand hat, den Frieden abzuschließen, wozu 
er sicher neigt, oder ob die Armee und das 
Volk die Fortsetzung des Krieges verlangen, um 
nach so viel Opfern, wenn auch mit neueren 
weiteren Verlusten, das endgiltige Ziel: den 
Einzug in Konstantinopel zu erreichen. Mas 
geschieht dann? Gesetzt, bei Tschataldscha und 
Bulair erringen die Bulgaren neue Siegel 
Kommt dann Stambul in bulgarische Hände 
oder treten ähnliche Verhältnisse wie nach dem 
Frieden von San Stefano ein? Die Lösung 
dieser Frage liegt in den Händen von England 
und Rußland. 
Adrianopel wäre auch sowieso beim Frie 
densschluß in bulgarischen Besitz gekommen. Der 
Grund für den erneuten Sturm liegt wohl mit 
in der „Prestigefrage" bei den Balkanvölkern. 
Aach Äußerung eines Diplomaten sehten sie 
den Sturm insbesondere auch aus dem Gesichts 
punkte fort, daß sie später den Vorwurf zurück- 
weisen können: für Tschataldscha haben sie 
fremder Hilfe bedurft. Dies ist jetzt aber nicht 
mehr der Fall. Bulgarien hat Adrianopel seiner 
Zukunft halber gestürmt; dessen Besitz war ent 
scheidend für die Machtstellung der Türkei in 
Europa und für diejenige Bulgariens auf dem 
Balkan. Gerade aus diesem Gesichtspunkte dürfte 
dem Falle Adrianopels bei dem Gegensatze des 
Hellenismus und Slawentums in Zukunft noch 
eine besondere Würdigung Mteil werden können. 
Dann scheint daher das vor Adrianopel bei dem 
letzten Sturm vergossene Blut doch seine Früchte 
zu tragen. Die ganze slawische Welt ist dadurch 
berührt. 
Daß Bulgarien trachten wird, sich für 
die bei der Einnahme der Festung gebrachten 
Opfer schadlos zu halten, ist wohl anzunehmen. 
* . * 
* 
In politischer Hinsicht führte Imhoff Pascha 
ferner aus: 
Die Bedeutung des Falles von Adrianopel 
wird am besten durch stürmische Beifallsäuße 
rungen der russischen Reichsduma beim An 
langen der bulgarischen Siegesnachricht beleuch 
tet. Dieser spontane Ausdruck der russischen 
Volksmeinung über den slawischen Sieg zeigt 
deutlich, welche ungeheuere Wichtigkeit man ihm 
in Rußland beimißt und mit welchem tiefen 
Gefühle und mit welcher Anteilnahme die 
russische Volksseele den bisherigen Verlauf des 
Balkankrieges verfolgt hat; der Vorgang zeigt, 
daß die russische Regierung in eventuellen Fällen 
vielleicht doch in Zukunft zu einer Stellung 
nahme gezwungen werden kann, die dem euro 
päischen Frieden nicht förderlich ist. Es dürfte dies 
auf dem instinktiven Gefühle des russisch-slawi 
schen Elements beruhen, welches nach anderer 
Richtung, gegen Osten und gegen Süden, in 
seiner Expansion beschränkt ist und hier einen 
Ausweg für seine Bestrebungen sucht. 
Wer die internationalen Verhandlungen mit 
Aufmerksamkeit verfolgt, kann aus diesem Vor 
gänge mehr ersehen, als aus den langwierigen 
Beratungen usw., in denen doch niemand seine 
wahre Meinung zum Ausdruck bringt. 
Abgesehen von dem Eindrücke dieser Kund 
gebung auf die offiziellen russischen Kreise ist 
die Reaktion des Sieges auf die Balkanvölker 
ein nicht zu unterschätzender Faktor, denn die 
bulgarische Prärogative war unter dem Einflüsse 
der letzten ergebnislosen Monate den erfolgreichen 
Verbündeten gegenüber stark in das Wanken 
geraten. 
Aus dem Gesichtspunkte des Prestiges dürfte 
dem Falle Adrianopels bei dem Gegensatze des 
Hellenismus und Slawentums, in Zukunft noch 
eine besondere Würdigung zuteil werden können. 
Dann scheint das vor Adrianopel bei dem letz 
ten Sturme vergossene Blut doch seine Früchte 
zu tragen und nicht vergeblich und nutzlos ge
	        
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