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Die Stimmung in Konstantinopel nach dem Wiederausbruch des Krieges.
BQ
jeder gewissenhafte Ieitungskorrespondent min
destens einmal täglich vorsprechen soll. Eines
Tages aber kam der Rosselenker nicht mehr, die
Soldaten hatten ihm die beiden Braunen aus
dem Stall geschleppt. Ruch das danke ich den
Bulgaren. Hätten sie gehalten, was sie verspro
chen haben, wäre mir die Fahrgelegenheit wenig
stens erhalten geblieben. Unter diesen Umständen
blieb mir also nichts anderes übrig, als mich
mit türkischer Schicksalsergebenheit in das Un
vermeidliche zu fügen und die Gummischuhe
wieder hervorzuholen. Seitdem klettere ich also
den steilen Weg hinan, der mich rechts von der
deutschen Botschaft auf den Boulevard von
Ayas-Pascha führt, und ziehe von dort meine
Straße weiter. Das geschieht in diesen stillen
Zeiten besonders an posttagen, so gegen halb
12 Uhr vormittags, wenn ich mich von meinem
Fenster davon überzeugt habe, das) der rumäni
sche Dampfer „Beyler-Bey" in Sicht ist. Das
einzig Wissenswerte in diesen nachrichtenlosen
Tagen ist ja, ob der Dampfer zur rechten Zeit
ankommt oder mit Verspätung, denn er spielt
eine zu große Rolle in unserem bescheidenen
Leben, als das) man sich nicht um sein Schick
sal kümmern müßte. Rach seiner Ankunft richtet
sich unsere Zeiteinteilung wenigstens dreimal in
der Woche. Vorsichtige Leute pflegen sich bei
der Post über die Ankunft zu unterrichten und
oft hat der Postbeamte weiter nichts anderes
zu tun, als all den Reugierigen Frage und
Antwort zu stehen. Mehr jedoch als die Schalter
beamten bemitleide ich den Postdirektor, der nicht
einmal in Ruhe sein Mittagmahl im Klub ein
nehmen kann. Von allen Seiten wird er ge
fragt: „Wann kommt der Dampfer?" und „Ist
das Telegramm schon da?" oder „Wieviel
Stunden Verspätung hat er?" Kann er ant
worten, ist es gut, wenn nicht, darf er lächelnd
die Frager an den Telegraphendirektor verweisen,
und ist dieser nicht erschienen, dann weiß man,
daß die Post nicht vor 4 Uhr nachmittags ver
teilt wird. In diesem Falle hat ein pflicht
bewußter Ieitungskorrespondent genügend Zeit,
sich nach Stambul hinüber zu begeben, um in
dem oben genannten Auskunftsbureau im Kriegs
ministerium vorzusprechen. Dieses Bureau ist
eine der besten Einrichtungen des jungtürkischen
Regimes. Da keine Berichterstatter in die Front
gelassen werden, hat man eine aus einem Major,
einem Rittmeister und einem Leutnant zusammen
gesetzte Kommission ernannt, deren Aufgabe es
wäre, in den Rachmittagsstunden zwischen 2 und
3 Uhr den Besuchern, Militärattaches und
Korrespondenten, Auskünfte zu erteilen über die
vom Kriegsschauplatz eingetroffenen Rachrichten.
Wie interessant diese Auskünfte zuweilen aus
fallen, insofern man überhaupt zur festgesetzten
Zeit jemand in diesem Bureau trifft, mag eine
kurze Beschreibung dieser kostbaren Einrichtung
zeigen. Die Auskunftserteilung besteht nämlich
darin, daß man den Besucher erst eine halbe
Stunde warten läßt, daß dann der Offizier er
scheint und feststellt, daß eigentlich nicht er, son
dern der Major Auskünfte zu erteilen habe, der
übrigens in einer halben Stunde sicher erscheinen
werde, daß besagter Major während dieser Zeit
und auch später nicht erscheint, der Leutnant,
durch ein mehrmaliges Räuspern des Besuchers
auf den Gegenstand seines Anliegens aufmerk
sam gemacht, das Zimmer verläßt und mit einem
Zettel wiederkehrt, von dem er jedesmal dieselbe
wichtige Rachricht abliest: „In Bulair nichts
Reues; bei Tschataldscha ist die Lage, unver
ändert; von Adrianopel sind keine Rachrichten
eingetroffen." Mit diesen interessanten Infor
mationen darf dann der Berichterstatter abziehen
und er kann gewiß sein, daß ihm die Zensur
keinerlei Schwierigkeiten bei Beförderung seines
Telegrammes bereitet. Ist er jedoch von der
Wichtigkeit dieser Rachrichten nicht ganz über
zeugt, wandert er zu Tokatlian zurück, denn
hier ist noch der Ort, wo der vom Kampfplatz
ferngehaltene Korrespondent die Kanonen donnern
hören und die Schrapnells platzen sehen kann.
Die Erzählungen der jungen Offiziere, die bis
nach Gallipoli kamen und dann wieder nach
Hause geschickt wurden, könnten ihn zu den
schönsten Schlachtberichten anfeuern. Oder sollte
vielleicht der Bericht von einer Rattenjagd in
der Kabine des Dampfers mit allen seinen Ein
zelheiten nicht zu einer Schilderung des Kampfes
bei Bulair, von eroberten Forts, anregen, und
der Held, der von der Ratte gebissen wurde,
nicht in der Phantasie des Korrespondenten die
Züge des Freiheitshelden Enver Bey annehmen,
der verwundet bei Gallipoli sich ins Meer wirft,
bei Rodosto wieder aus den Fluten auftaucht,
eine Landung vornimmt und zugleich in Kon
stantinopel die Pforte für die in Aussicht ste
hende Gegenrevolution der Opposition bewacht?
Man wußte also in Konstantinopel wenig
Authentisches über die Kämpfe bei Bulair und
Tschataldscha; Kriegskorrespondenten wurden nicht
an die Front gelassen, und so existieren nur sehr
spärliche Berichte, die ein Bild dieser Gefechte
mit ihrem wechselnden Kriegsglück geben können.