Volltext: Illustrierte Geschichte des Balkankrieges 1912 - 13 Zweiter Band (Zweiter Band / 1914)

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Die Stimmung in Konstantinopel nach dem Miederausbruch des Krieges. 
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klugheit seine Orgien gefeiert haben — ein 
rein menschliches Empfinden hindert uns daran, 
das) wir dieser großen Katastrophe, von der 
ein Soojähriges Reich ergriffen ist, mit Gleich 
giltigkeit gegenüberstehen. 
Wir sind im großen Vortragssaale der 
Universität in Stambul. Versammelt ist alles, 
was die osmanische Ration an Männern und 
Jünglingen von Her) und Verstand besitzt. Wir 
können sicher sein, daß hier das Her) der 
Türkei klopft. Sein Klopfen malt sich in allen 
Gesichtern. Der gewöhnliche frier iche Ernst der 
Osmanli tritt heute abends vertieft auf. Keiner 
ist in der Versammlung, der sich nicht der 
Schwere des Augenblicks bewußt ist, wo sich 
bald die Geschicke des Reiches entscheiden 
sollen. Es handelt sich nicht mehr um Rumelien, 
um die alten Pfade der Eroberung, die von 
Bulair an den blauen Dardanellen ausgehend 
nach Adrianopel und von dort nach Usküb, 
Monastir und Saloniki weisen, es handelt sich 
um die Wiege des osmanischen Reiches, das 
alte Anatolien, um die Existen) der Ration selbst. 
Das Stimmengewirr, das im Saale herrscht, 
kommt )ur Ruhe. Auf der Rednerbühne er 
scheint eine Persönlichkeit, die einen vom 
osmanischen verschiedenen Typus trägt. Es ist 
der russische Mohammedaner Ahmed Agajew, 
der Prophet des aufgeklärten pantürkentums, 
ein Mann des leidenschaftlichen Wortes, der 
den Osmanlis den letzten Rest von Ergebung 
in den Willen des Kismet gern austreiben und 
in ihre Adern das eigene Feuer des alten 
Kämpfers für den Islam ergießen möchte. Be 
sonders hat er es auf die Jugend abgesehen. 
Die in materieller und moralischer Verlassenheit 
dahinlebende türkische Jugend will er aus ihrem 
geistigen Schlafe aufwecken. Seine Worte tönen 
wie Hammerschläge. Er )eichnet seinen Hörern 
den Weg vor, den sie gehen sollen, den Weg 
der Opfer und des Heldentums, und schließt 
mit dem voll Emphase in den Saal hinein 
geschleuderten Wort, daß diese Opfer die Ouelle 
des künftigen nationalen Lebens sein werden. 
Der nächste Redner ist eine in der Haupt 
stadt äußerst populäre Gestalt, der feine und 
kluge Hodscha Mustapha Ajsim Effendi. Der 
Mann ist ein Redner ersten Ranges. Er ver 
fügt über das gan)e Register der alten osmani 
schen Beredsamkeit. Es ist eine wahre Freude, 
seinem Redefluß )u lauschen. Die türkischen 
Worte werden an )ahlreichen Stellen durch 
Koran)itate unterbrochen. Er will nämlich nach 
weisen, wer die Feinde sind, von deren Ver 
nichtung ein Vers des heiligen Buches spricht: 
„Die Feinde des Islams," so ruft er aus, 
„sind diejenigen, die unser Vaterland angegriffen, 
die unseren Glauben in den Staub getreten, 
die unsere Kinder und unsere Frauen gemordet 
haben." Er legt den jungen und alten Patrioten 
ans Her), bei ihrer Aufklärung des Volkes, 
die er ihnen )ur Pflicht macht, diesen Punkt )u 
beachten. Er beschwört sie, der Ansicht mit Rach 
druck entgegeryutreten, daß alle Fremden Feinde 
des Islams sind. 
Rachdem der liberale Mustapha Affim 
Effendi auf diese Weise den Geist des Fanatis 
mus gebannt hat, ließ er dem Professor Ham- 
dullah Subhi das Wort. Dieser ist einer von 
den Märtyrern der Freiheit, die das Regime 
Abdul Hamids geschaffen hat. Von ihm rührt 
das in mächtigen Rhythmen einherschreitende 
Gedicht „Stambul" her, in dem die Rede von 
dem „Roten Sultan" ist, der in der einen 
Hand ein Schwert, in der anderen den Koran, 
alles erwürgt bis )u den Kindern in der Wiege. 
Heute )eichnete er der nationalen Propaganda 
die Grundlinien ihres Wirkens vor. Mit mäch 
tiger Stimme stellt er die Frage an die Ver 
sammlung, ob das osmanische Volk damit ein 
verstanden sein werde, sich wie eine verächtliche 
Herde behandeln )u lassen. „Wenn wir Stambul 
aufgeben," so rief er aus, „werden uns die 
Frauen ihre Verachtung ins Gesicht schleudern. 
Das osmanische Heer ist nicht durch den Feind 
besiegt. Wir haben es besiegt, wir haben es 
hungern lassen. Wir haben es ohne Proviant 
gelassen. Wir haben es mit unglaublichem Leicht 
sinn geführt. Wir sind es gewesen, die unsere 
Soldaten über das offene Land )erstreut haben, 
nicht die Feinde. Tun wir alles, was in unseren 
Kräften steht. Wenn wir keinen Erfolg haben, 
so werden wir uns doch wenigstens nicht vor 
unseren Kindern und Rachkommen )u schämen 
haben." Brausender Beifall ertönte, von dem 
der Saal )itterte. Das türkische Her) bebte. 
Eine ehrliche Begeisterung kam über die Ver 
sammlung bei diesen Worten, die Balsam für 
die Wunden der Ration enthielten. 
Und nun trat eine in letzter Zeit viel 
genannte Persönlichkeit auf, Enis Avin Bey, 
der den Schriftstellernamen „Aka Gündüs" 
trägt. Er gehört )u denen, die durch ihre literari 
sche Tätigkeit nicht nur das türkische Rational 
gefühl, sondern auch das turanische Rassen- 
gesühl )u wecken suchten. Bei der Kundgebung, 
die )u Beginn des Balkankrieges vor der Pforte 
stattfand, spielte er eine große Rolle, und sagte 
dem damaligen Großwesir Gha)i Ahmed 
Mukhtar Pascha einige Worte, die ihn später 
unter Kiamil Pascha in die Untersuchungshaft 
führten. Aka Gündüs hat sich das Recht er 
worben, einmal in der türkischen Literaturgeschichte 
mit großer Ehrung genannt )u werden. Er hat 
in seinem „türkischen Her)en" dem Osmanentum 
in Ma)edonien das Schwanenlied gesungen. 
Sein Stil ist volkstümlich und sein Wort stark 
und packend.
	        
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