Die Folgen der Umwälzung in Konstantinopel.
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Umschwung in Konstantinopel könnte im schlimm
sten Falle die Verweigerung der Abtretung
Adrianopels zur Folge haben, eine Eventualität,
mit welcher auch unter dem Kabinett Kiamil
Pascha schließlich gerechnet werden mußte. Trotz
aller gegenteiligen Meldungen glaubt man in
unterrichteten Kreisen, daß sich auch das neue
Kabinett den zahlreichen triftigen Argumenten,
die der Türkei eine Miederaufnahme der Feind
seligkeiten äußerst gefährlich erscheinen lassen
müssen, nicht verschließen werde. Die Haupt
stütze für die ruhige Beurteilung der Situation
ist jedoch die Einigkeit der Mächte, die auch
durch die jüngsten Ereignisse nicht gestört wurde.
Die Einigkeit der Mächte! Mie herrlich es
um diese Einigkeit be
stellt war, haben wir
schon gesehen: nur das
gegenseitige Mißtrauen
hinderte die beiden großen
Mächtegruppen, selbst
ständig in den Balkan
krieg einzugreifen. Meil
man nicht wollte, daß
der verhaßte Vachbar
irgend etwas unternehme,
tat man selbst auch
nichts und beschränkte sich
auf wohlmeinende Rat
schläge, an deren Mort
laut Machen lang herum
redigiert werden mußte.
Die Ansicht der Bal
kandelegierten in
London.
Mie man in Kreisen
der Balkandelegierten die
Situation nach dem Kon-
stantinopler Staatsstreich
auffaßte, zeigt folgende
Depesche aus London,
25. Januar:
Heute Vachmittag traten die Chefdelegierten
der Balkanverbündeten wieder zu einer Beratung
zusammen. Von den Alliierten hat Griechen
land den Maffenstillstand bekanntlich nicht unter
zeichnet und führt mit der Türkei Krieg. Mon
tenegro ist trotz des Maffenstillstandes in kriege
rischen Operationen begriffen. Griechenland und
Montenegro sind also an einer eventuellen Kün
digung des Maffenstillstandes nicht direkt inter
essiert. Sie interessieren mehr die diplomatischen
Folgen, die sich an den Wiederausbruch des
Krieges knüpfen würden, und die eventuelle
Maffenhilfe, die sie als Bundesgenossen zu
leisten hätten.
Es handelt sich also heute hauptsächlich
darum, ob die serbischen Delegierten ihre In
struktionen erhalten haben, die sie zur Annahme
des bulgarischen Vorschlages ermächtigen würden
und ob die Bulgaren auf dem Vorschlag be
stehen, von der türkischen Regierung eine rasche
Antwort im Mege eines Ultimatums zu ver
langen.
Auch wenn sie eine Maffenhilfe nicht
brauchen, müssen die Bulgaren auf die Stim
mung ihrer Bundesgenossen Rücksicht nehmen.
Die Serben können zu dem, was sie bereits
okkupiert haben, nichts dazu gewinnen, es sei
denn, daß die Bulgaren ihnen vom bulgarischen
Anteil ein Stück versprechen. Die Bulgaren
waren heute vormittags noch unbedingt dafür,
daß man ein Ultimatum stelle, denn die im Ulti
matum zu sehende Frist
und die viertägige Kün
digungsfrist des Maffen
stillstandes würden der
jungtürkischen Regie
rung, im Falle sie nach
geben wollte, genügend
Zeit zur Beschlußfassung
lassen.
Die Bulgaren glau
ben, daß die Türkei zu
einem Offensivvorstoß un
fähig ist, während sie
selbst die Ungeduld ihrer
Leute zu zügeln haben.
Ihnen kommt auch zu
gute, daß dank der sel
tenen Feuerdisziplin ihrer
Truppen und der starken
Verwendung des Bajo
netts ihr Munitions
verbrauch ganz über
raschend gering gewesen
ist. Sie haben pro Ge
wehr nur JOO Patronen
verschossen, während vor
dem Krieg der Verbrauch
theoretisch auf )0<X> bis
2000 pro Gewehr berechnet worden war und
trotzdem die Schlachten im Gegensatz zu denen
des ostasiatischen Krieges durch die Artillerie ent
schieden wurden, haben sie pro Geschütz nur
300 Geschosse abgefeuert. Sie halten die Moral
der türkischen Truppen für noch nicht hergestellt.
Als die Bulgaren nach der Einnahme von Kirk-
kiliffe die Post- und Telegraphenämter besetzten,
fiel ihnen das Manuskript einer Depesche in die
Hände, die Mahmud Mukhtar an seinen Vater,
den damaligen Großwesir gesandt hatte. In
dieser Depesche hieß es: „Biete alles auf, um
eine Intervention der Mächte zu erlangen, denn
mit diesen Truppen ist nichts anzufangen."
Daran hat sich, wie die Bulgaren glauben,
auch heute nicht viel geändert. Jedenfalls könne
Hirt aus Rhodope.