Volltext: Illustrierte Geschichte des Balkankrieges 1912 - 13 Zweiter Band (Zweiter Band / 1914)

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Die Folgen der Umwälzung in Konstantinopel. 
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berufung der Reserven nicht von Haus aus in 
vollem Umfang durchgeführt zu haben, während 
die Verhältnisse doch eine allgemeine Mobil 
machung notwendig erscheinen ließen; dadurch 
sei die Armee gerade in dem entscheidenden 
Zeitpunkt nicht aktionsbereit gewesen. 
Aach Ausbruch des Krieges wurde Razim 
Pascha )um Oberkommandanten der türkischen 
Armee ernannt. Seine Tätigkeit in dieser Rich 
tung erfuhr die schärfste Kritik. Er habe trotz 
der Einwendungen Mahmud Mukhtar Paschas 
den Vorstoß auf Kirkkilisse angeordnet und sich 
bei Lüle Burgas zur Schlacht gestellt, obwohl 
Mukhtar Pascha und andere hohe Offiziere die 
Armee für noch nicht geeignet erachteten, den 
Kampf in offener Feldschlacht aufzunehmen. 
Wie immer nach einem unglücklichen Kriege, 
wurde die ganze Last der Verantwortung auf 
den einen Mann gemäht, der das verant 
wortungsschwerste Amt des Feldherrn übernahm 
und gut machen sollte, was in Zähren des 
Friedens an der Armee gesündigt wurde. Razim 
Pascha war Meifellos einer der besten Generale 
der türkischen Armee. Was ihn veranlaßt haben 
mag, die Armee ins freie Feld hinauszuführen, 
statt sie in der Tschataldschastellung in aller 
Ruhe zu versammeln und erst vorzubrechen, 
wenn alles fertig war, läßt sich kaum ergründen. 
In der Versammlung des Großen Rates 
hatte Razim Pascha ein Expose über die mili 
tärische Lage erstattet und es wurde erzählt, 
daß die Darlegungen des Kriegsministers auf 
die Versammlung einen tiefen Eindruck machten. 
Razim Pascha kannte die Armee, er wußte, in 
welcher Verfassung sie sich befand. Er hatte die 
Schlacht bei Lüle Burgas und Tschorlu mit 
gemacht und war im Besitze des besten Materials 
zur Beurteilung der Aktionskraft des Heeres. 
Er hatte sich gegen die Fortsetzung des Krieges 
ausgesprochen und glaubte sicher, allen Grund 
dafür zu haben. 
Als er sich vor der Schlacht bei Lüle Burgas 
zur Armee begab, telegraphierte er dem Sultan, 
daß er entweder als Sieger oder tot nach Kon 
stantinopel zurückkehren werde. Run traf ihn 
die Kugel, als er sich gegen die Fortsetzung des 
Krieges aussprach, den weiterzuführen die Armee 
seiner Überzeugung nach nicht fähig war. Daß 
er Bestechungen angenommen haben soll, ist 
sicher erfunden, um sein Andenken herabzu 
würdigen. Man hat ihm, der seinen komfortabel 
eingerichteten Eisenbahnwagen bei Lüle Burgas 
nicht verließ und auch bei Tschataldscha es 
vorzog, im sicheren Schutz zu bleiben, den Vor 
wurf der Feigheit gemacht, aber Bestechlichkeit 
lag ihm sicher ferne. 
Die Folgen der Umwälzung in Konstantinopel. 
Zweck des Staatsstreiches Enver 
Behs war eine radikale Änderung 
der türkischen Politik. Die Preisgabe 
^ a der europäischen Türkei, insbesondere 
Adrianopels, sollte verhindert werden. Es ist 
nun interessant, zu sehen, wie die Türken selbst 
über die politischen Folgen des Staatsstreiches 
dachten. 
Der türkische Geschäftsträger am Berliner 
Hofe, Botschaftsrat Galib Kemali Bey, der 
den Botschafter Osman Rizami Pascha vertrat, 
empfing am 24. Januar einen Korrespondenten 
der „Reuen Freien Presse" und äußerte sich 
über den Umschwung in Konstantinopel folgender 
maßen: 
„Ich habe längst erwartet, daß Ereignisse 
wie die gestrigen eintreten werden. Sowohl 
das Heer, wie das gesamte Volk, ist von der 
Überzeugung durchdrungen, daß Adrianopel 
nicht aufgegeben werden dürfe. Es konnte nicht 
ausbleiben, daß diese Stimmung sich in dem 
Augenblicke Bahn brach, als die Großmächte 
durch ihren Druck die Regierung zwangen, in 
dieser Lebensfrage nachgiebig zu sein. Die 
'Türkei hat bewiesen, daß in ihr noch nicht 
alles nationale Gefühl erloschen ist. Man hat 
bis gestern angenommen, daß sie als Besiegte 
die Dinge in voller Passivität über sich ergehen 
lassen werde, und daß sie einfach gezwungen 
sei, die Befehle der Großmächte ruhig hinzu 
nehmen. Diese Auffassung ist nunmehr wider 
legt. Es ist sehr zu bedauern, daß dabei ein 
Mann wie Razim Pascha das Leben verlieren 
mußte. Er war mein Freund und ich weiß, daß 
er tapfer und patriotisch war, aber wir hoffen, 
daß dieses Opfer nicht umsonst gebracht ist und 
daß die Bewegung, der es galt, ihre Früchte 
tragen wird." 
Der Korrespondent fragte, ob die öffentliche 
Meinung in ihrer Mehrheit auf der Seite der 
Zungtürken stehe. 
Kemali Bey erwiderte: „Es ist nicht richtig, 
gegenwärtig zwischen Zungtürken und Alttürken 
zu unterscheiden. Auch die vergangene Re 
gierung hat nicht aus Alttürken bestanden, 
sondern auch diese Männer waren ehrlich um 
die Regeneration der Türkei bemüht. Ich schätze 
Kiamil Pascha und seine gewesenen Minister 
kollegen sehr hoch. Sie haben nur ihre be 
sonderen Ansichten über die Wahl der Mittel
	        
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