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Der Staatsstreich in Konstantinopel.
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Pforte ankamen und Fuad das Dekret über
die Ernennung Mahmud Schefkets vor dem
Volke verlas. Tosender Beifall erschallte, als
Mahmud Schefket ausrief: „Die neue Regie¬
rung wird nach den Wünschen des Volkes
handeln!" Erst auf Bitten Schefkets verliest
die Menge dann den Hof der Pforte, aber bis
tief in die Rächt dauerten die Freudenkund¬
gebungen. Der regnerische Tag schlost mit der
Verhaftung einiger Anstifter der letzten Zung-
türkenhetze. Roch im Laufe der Rächt wurden
die wichtigsten Posten mit Anhängern der
Komiteepartei beseht und am Freitag morgens
konnte niemand mehr zweifeln, dast der putsch
gelungen sei. Die Mitglieder des Kabinetts
Kiamil kehrten im Laufe der Rächt unauffällig
in ihre Wohnungen zurück. Kiamil selbst, der
vor Erregung krank geworden war, konnte die
Pforte erst am Freitag verlassen.
Von den vielen Versionen über den Tod
Razim Paschas fei noch die folgende als wahr¬
scheinlich erwähnt:
Zwei Ordonanzoffiziere Razims versuchten
angeblich Enver Bey und seinen Begleitern den
Eintritt in das Zimmer des Ministerrates zu
verwehren. Trotzdem drangen die Offiziere ein.
Razim hatte sich bei dem Lärm erhoben, zog
den Revolver und befahl den Eingedrungenen,
sich zurückzuziehen. Als die Freunde Enver Beys
auch ihre Revolver zogen, feuerte Razim mehr¬
mals. Der erste Schust tötete einen Begleiter
Envers, der Zivil trug. Ein zweiter streckte
Razims eigenen Adjutanten, Tewfik Bey,
nieder. Runmehr feuerten auch die Freunde
Enver Beys. Razim stürmte, über dem rechten
Auge getroffen, nieder. Reben ihm fiel fein
zweiter Adjutant, Rast) Bey. Enver Bey selbst
hat nicht gefeuert. Kiamil Pascha fiel während
der Schiesterei in Ohnmacht. Gegen Mitter¬
nacht wurden jedenfalls 4 Leichen nach Gül-
hane übergeführt. Bei der Freitag früh erfolgten
Besetzung Razims in der Suleimanijeh-Mofchee
war jedoch auch Enver Bey zugegen.
Soweit der eine Bericht. Dagegen wird
von einem Augenzeugen betont, dast Enver Bey
selbst den tödlichen Schust auf Razim Pascha
abgegeben habe. Rach dieser Darstellung haben
sich die Ereignisse folgendermasten abgespielt:
Seit etwa 14 Tagen hatte man bereits
beschlossen, das Kabinett Kiamil und besonders
Razim Pascha, wegen seiner erwiesenen Unfähig¬
keit zu stürmen. Die Zungtürken waren empört,
dast Razim Pascha angeblich Schmiergelder
von den Bulgaren genommen habe, um während
des Waffenstillstandes Adrianopel hungern
?u lassen und somit vorzeitig zum Fall zu
bringen. Die Triebfeder des Ministersturzes ist
übrigens nicht das Komitee gewesen, dessen man
nicht sicher war, sondern Enver Bey und seine
intimsten Freunde selbst. Zur Erreichung seines
Zweckes unternahm Oberstleutnant Enver Bey
am Donnerstag den 23. Zanuar eine Felddienst-
übung mit 2 Schwadronen und 4 Bataillonen
und rückte nach Beendigung der Übung mit
seinen Truppen vor die Hohe Pforte, sperrte
sie ab und drang mit 50 Verschwörern ein.
Rach kurzem Wortwechsel schiestt der Adjutant
Razims ein beliebtes Mitglied der Verschwörer,
Major Mehmed Redjib, nieder und wird selbst
getötet. Der Kriegsminister Razim Pascha er¬
scheint an der Tür. Man fordert ihn auf, zu
demissionieren, er weigert sich jedoch, beschimpft
die Verschwörer und schiestt einen Offizier
nieder. Darauf wird er selbst von Enver Bey
durch die Schläfe geschossen. Der Tod trat
sofort ein.
Razim Pascha.
Wahrheit und Dichtung mögen sich in diesen
Berichten durcheinander mengen, in der Haupt¬
sache, die für die Folgen entscheidend war,
stimmen sie überein. Ob der Staatsstreich Enver
Beys mehr oder minder schroff zur Durch¬
führung gelangte, das war schliestlich gleich-
giltig; wesentlich war, dast er gelang, dast aber
der Erfolg mit dem Blute Razim Paschas be¬
lastet war.
Hussein Razim Pascha hatte abenteuerliche
Schicksale hinter sich, die nicht ahnen liesten,
dast er schliestlich von der Hand der Partei
fallen würde, um derentwillen er Unglück und
Entbehrungen aller Art erlitten hatte. Mährend
des russisch-türkischen Krieges zeichnete sich
Razim, Schüler von St. Cyr, in hervorragender
Weise aus. Rescheb Pascha ernannte ihn zu
seinem Generalstabschef, und er genost nicht
nur die Gunst, sondern die persönliche Freund¬
schaft Abdul Hamids. Wie die meisten Günst¬
linge des „roten Sultans" wurde er jedoch
bald ein Opfer des krankhaften Misttrauens
seines Herrn. Er geriet in den stets verhängnis¬
vollen Verdacht, ein heimlicher Anhänger der
jungtürkischen Bestrebungen zu sein, und sich
mehr als es einem Offizier des Sultans ziemte,
um Politik zu kümmern. Abdul Hamid pflegte
in solchen Fällen kurzen prozest zu machen.
Razim wurde in der Rächt verhaftet, öffent¬
lich degradiert und zu 5 Jahren Einzelhaft in
der Festung Erzinghian verurteilt. Die Haft
war zwar sehr streng, wie das in türkischen
Festungen unter dem alten Regime die Regel
war, aber nach einiger Zeit wurde dem ein¬
samen Gefangenen das Studium militärischer
Bücher gestattet und er erwarb in diesen
Zähren viele Kenntnisse, die ihm später von
grostem Rutzen waren. Als die 5 Zahre vorüber
waren, wurde er jedoch nicht etwa in Freiheit