Volltext: Illustrierte Geschichte des Balkankrieges 1912 - 13 Zweiter Band (Zweiter Band / 1914)

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Der Staatsstreich in Konstantinopel. 
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Pforte ankamen und Fuad das Dekret über 
die Ernennung Mahmud Schefkets vor dem 
Volke verlas. Tosender Beifall erschallte, als 
Mahmud Schefket ausrief: „Die neue Regie¬ 
rung wird nach den Wünschen des Volkes 
handeln!" Erst auf Bitten Schefkets verliest 
die Menge dann den Hof der Pforte, aber bis 
tief in die Rächt dauerten die Freudenkund¬ 
gebungen. Der regnerische Tag schlost mit der 
Verhaftung einiger Anstifter der letzten Zung- 
türkenhetze. Roch im Laufe der Rächt wurden 
die wichtigsten Posten mit Anhängern der 
Komiteepartei beseht und am Freitag morgens 
konnte niemand mehr zweifeln, dast der putsch 
gelungen sei. Die Mitglieder des Kabinetts 
Kiamil kehrten im Laufe der Rächt unauffällig 
in ihre Wohnungen zurück. Kiamil selbst, der 
vor Erregung krank geworden war, konnte die 
Pforte erst am Freitag verlassen. 
Von den vielen Versionen über den Tod 
Razim Paschas fei noch die folgende als wahr¬ 
scheinlich erwähnt: 
Zwei Ordonanzoffiziere Razims versuchten 
angeblich Enver Bey und seinen Begleitern den 
Eintritt in das Zimmer des Ministerrates zu 
verwehren. Trotzdem drangen die Offiziere ein. 
Razim hatte sich bei dem Lärm erhoben, zog 
den Revolver und befahl den Eingedrungenen, 
sich zurückzuziehen. Als die Freunde Enver Beys 
auch ihre Revolver zogen, feuerte Razim mehr¬ 
mals. Der erste Schust tötete einen Begleiter 
Envers, der Zivil trug. Ein zweiter streckte 
Razims eigenen Adjutanten, Tewfik Bey, 
nieder. Runmehr feuerten auch die Freunde 
Enver Beys. Razim stürmte, über dem rechten 
Auge getroffen, nieder. Reben ihm fiel fein 
zweiter Adjutant, Rast) Bey. Enver Bey selbst 
hat nicht gefeuert. Kiamil Pascha fiel während 
der Schiesterei in Ohnmacht. Gegen Mitter¬ 
nacht wurden jedenfalls 4 Leichen nach Gül- 
hane übergeführt. Bei der Freitag früh erfolgten 
Besetzung Razims in der Suleimanijeh-Mofchee 
war jedoch auch Enver Bey zugegen. 
Soweit der eine Bericht. Dagegen wird 
von einem Augenzeugen betont, dast Enver Bey 
selbst den tödlichen Schust auf Razim Pascha 
abgegeben habe. Rach dieser Darstellung haben 
sich die Ereignisse folgendermasten abgespielt: 
Seit etwa 14 Tagen hatte man bereits 
beschlossen, das Kabinett Kiamil und besonders 
Razim Pascha, wegen seiner erwiesenen Unfähig¬ 
keit zu stürmen. Die Zungtürken waren empört, 
dast Razim Pascha angeblich Schmiergelder 
von den Bulgaren genommen habe, um während 
des Waffenstillstandes Adrianopel hungern 
?u lassen und somit vorzeitig zum Fall zu 
bringen. Die Triebfeder des Ministersturzes ist 
übrigens nicht das Komitee gewesen, dessen man 
nicht sicher war, sondern Enver Bey und seine 
intimsten Freunde selbst. Zur Erreichung seines 
Zweckes unternahm Oberstleutnant Enver Bey 
am Donnerstag den 23. Zanuar eine Felddienst- 
übung mit 2 Schwadronen und 4 Bataillonen 
und rückte nach Beendigung der Übung mit 
seinen Truppen vor die Hohe Pforte, sperrte 
sie ab und drang mit 50 Verschwörern ein. 
Rach kurzem Wortwechsel schiestt der Adjutant 
Razims ein beliebtes Mitglied der Verschwörer, 
Major Mehmed Redjib, nieder und wird selbst 
getötet. Der Kriegsminister Razim Pascha er¬ 
scheint an der Tür. Man fordert ihn auf, zu 
demissionieren, er weigert sich jedoch, beschimpft 
die Verschwörer und schiestt einen Offizier 
nieder. Darauf wird er selbst von Enver Bey 
durch die Schläfe geschossen. Der Tod trat 
sofort ein. 
Razim Pascha. 
Wahrheit und Dichtung mögen sich in diesen 
Berichten durcheinander mengen, in der Haupt¬ 
sache, die für die Folgen entscheidend war, 
stimmen sie überein. Ob der Staatsstreich Enver 
Beys mehr oder minder schroff zur Durch¬ 
führung gelangte, das war schliestlich gleich- 
giltig; wesentlich war, dast er gelang, dast aber 
der Erfolg mit dem Blute Razim Paschas be¬ 
lastet war. 
Hussein Razim Pascha hatte abenteuerliche 
Schicksale hinter sich, die nicht ahnen liesten, 
dast er schliestlich von der Hand der Partei 
fallen würde, um derentwillen er Unglück und 
Entbehrungen aller Art erlitten hatte. Mährend 
des russisch-türkischen Krieges zeichnete sich 
Razim, Schüler von St. Cyr, in hervorragender 
Weise aus. Rescheb Pascha ernannte ihn zu 
seinem Generalstabschef, und er genost nicht 
nur die Gunst, sondern die persönliche Freund¬ 
schaft Abdul Hamids. Wie die meisten Günst¬ 
linge des „roten Sultans" wurde er jedoch 
bald ein Opfer des krankhaften Misttrauens 
seines Herrn. Er geriet in den stets verhängnis¬ 
vollen Verdacht, ein heimlicher Anhänger der 
jungtürkischen Bestrebungen zu sein, und sich 
mehr als es einem Offizier des Sultans ziemte, 
um Politik zu kümmern. Abdul Hamid pflegte 
in solchen Fällen kurzen prozest zu machen. 
Razim wurde in der Rächt verhaftet, öffent¬ 
lich degradiert und zu 5 Jahren Einzelhaft in 
der Festung Erzinghian verurteilt. Die Haft 
war zwar sehr streng, wie das in türkischen 
Festungen unter dem alten Regime die Regel 
war, aber nach einiger Zeit wurde dem ein¬ 
samen Gefangenen das Studium militärischer 
Bücher gestattet und er erwarb in diesen 
Zähren viele Kenntnisse, die ihm später von 
grostem Rutzen waren. Als die 5 Zahre vorüber 
waren, wurde er jedoch nicht etwa in Freiheit
	        
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