Volltext: Illustrierte Geschichte des Balkankrieges 1912 - 13 Zweiter Band (Zweiter Band / 1914)

202 
Der Staatsstreich in Konstantinopel. 
□□ 
Während der Verhandlungen mit dem Groß- 
wesir entstanden die tragischen Zwischenfälle. 
Ohne diese hätte der ganze Staatsstreich den 
unblutigsten Verlauf genommen. Kaum daß sich 
im Konferenzsaal die Abdankung des Kabinetts 
Kiamil vollzog, war ein Adjutant des Groß 
wesirs, Major Rafiz, ein Albanese, zur Rampe 
der Pforte geeilt. Die Menge daselbst war in 
zwischen lawinenhaft angeschwollen. Ulemas 
haranguierten sie unter Anrufung Gottes. Razif 
versuchte mit der aus 50 Mann bestehenden 
pfortewache gegen die Volksmassen einzuschrei 
ten. Der die Mache befehligende Offizier war 
jedoch nicht auffindbar. Um die Truppe anzu- 
feuern, schoß Razif auf einen Anführer der Be 
wegung. Kur) darauf krachten 2 Schüsse, die 
Razif niederstreckten. 
Durch die Schießerei aufgeschreckt, verließ 
der Generalissimus Kriegsminister Razim Pascha 
mit seinem Adjutanten, dem Rittmeister Tewfik 
Kibrissli, den Konferenzsaal, nach einer Version, 
um ans Telephon behufs Requisition von Trup 
pen zu eilen, nach einer anderen, bloß um die 
Menge zu beschwichtigen. Im Vorraum begeg 
nete er den unionistischen Offizier Mustafa Red- 
jib. Angeblich soll der Rittmeister Tewfik gegen 
diesen den Revolver gezogen haben, jedenfalls 
krachten alsbald Schüsse, die den Generalissimus 
und seinen Adjutanten tödlich niederstreckten. Ein 
furchtbares Durcheinander entstand, bei dem noch 
fünf weitere, fast durchwegs Adjutantendienste 
versehende Offiziere ihr Leben einbüßten. Die 
Aufregung war ungeheuer. Erst als ein den 
Unionisten ergebenes Regiment unter dem Be 
fehl des Oberstleutnants Radji Bey, eines 
Schwiegersohnes des gestürmten Großwesirs 
Kiamil, heranrückte und die Wiederherstellung 
der Ordnung übernahm, stellte sich eine gewisse 
Beruhigung ein. Die zum Rücktritt gezwungenen 
Minister mußten bis 2 Uhr früh auf der Pforte 
verbleiben. Der Kriegsminister Razim verschied 
unter schwerem Röcheln erst nach 2 Stunden. 
Die getöteten Offiziere ließ man im Vorraum 
der Pforte bis zum späten Abend herumliegen, 
dann wurden sie nach dem Hospital von Gül- 
hane transportiert, wo der deutsche Professor 
Witting nur mehr ihren Tod feststellen konnte. 
Razims Ermordung wurde sogleich als ein 
tragisches Jufallsereignis hingestellt, aber selbst 
unionistische Kreise versichern, daß es mit diesem 
Zufall eine eigene Bewandtnis habe. Razim 
hatte in der letzten Zeit wiederholt Konventikeln 
beim Prinzen Halim, dem jetzigen Präsidenten 
des Staatsrats, beigewohnt und sich der unio 
nistischen Richtung stark genähert. Seinem Ein 
fluß schrieb man zu, daß auch nach dieser Wand 
lung fast alle verhafteten Unionisten in Freiheit 
gesetzt wurden, doch soll Razim später die Pläne 
der Unionisten verraten haben. Dann muß es 
aber wundernehmen, daß Razim so wenig 
oder so gut wie gar keine Vorsichtsmaßregeln 
traf. 
Die große Masse des türkischen Volkes steht 
den neuesten Ereignissen mit vollständiger Apa 
thie gegenüber. Bis auf den kleinen Raum in 
der Hohen Pforte und ihrer unmittelbaren Um 
gebung war kaum etwas von der Umwälzung 
zu bemerken. 
Was nun? Wird das Kabinett Mahmud 
Schefket den Krieg mit dem Balkanbund fort 
setzen und zu den alten Gefahren solche neuer 
und vielleicht noch ernsterer Ratur hinzugesellen? 
Mahmud Schefket Paschas feste Absicht mag die 
Fortsetzung des Krieges gewesen sein, aber unter dem 
Druck der Verantwortung, die er nunmehr auf 
sich genommen hat und angesichts des Zustan 
des der türkischen Armee und der Finanzen wird 
der neue Großwesir sich schnell ernste Rechen 
schaft ablegen müssen. Das, was der Türkei zur 
Stunde noch eine gewisse Existenzberechtigung 
verleiht, ist einzig die Armee. Diese Armee ist 
durch die verschiedenen Staatsstreiche halb zer 
fressen. Die Ereignisse von vorgestern haben den 
Zersetzungsprozeß nur noch vermehrt. Das Blut 
der 9 getöteten Offiziere wird alles eher, nur 
nicht versöhnend wirken, es wird den Samen 
für neue Militärputsche abgeben. Die Übernahme 
der Staatsgewalt durch Mahmud Schefket und 
feine Anhänger hat die gegenwärtigen Bedin 
gungen der türkischen Armee nicht zum Vorteil 
verschoben. 
Ihr Offensivgeist ist gebrochen. Dieser un 
umstößlichen Tatsache wird auch der neue Groß 
wesir trotz seines oder vielleicht gerade wegen 
feines unleugbaren Patriotismus sich nicht ver 
schließen. Vielleicht, daß das neue Regime auf 
eine Spaltung im Konzern der europäischen 
Großmächte spekuliert. Eine irrige Berechnung. 
Gewiß wird man der Richtung, die den der 
Türkei aufgezwungenen Frieden zu korrigieren 
trachtet, ein menschliches Mitgefühl nicht ver 
sagen können, ob aber der eingeschlagene Weg 
der richtige war, bleibt sehr zu bezweifeln. An 
statt schärfer zu werden, stumpfen sich die Ver 
teidigungsmittel der Türkei immer mehr ab. Viele 
hohe und intelligente Offiziere kehren sich mit 
Abscheu von den Blutlachen ihrer gefallenen 
Kameraden weg. Auch Mahmud Schefket wird 
einen baldigen Frieden zu schließen gezwungen 
sein, denn die Drohungen Rußlands, die türki 
schen Schwarze Meer-Häfen Trapezunt, Samsun 
und Sugundschak, den Kohlenhafen der Hera- 
klea-Bergwerke zu besehen, sind ernst. Außerdem 
liegt die Befürchtung vor, daß die bedeutsame 
arabische Frage bald mit voller Wucht einseht. 
Soweit der Konstantinopler Korrespondent der 
„Frankfurter Zeitung". Französische Blätter er 
hielten folgende Darstellung des Staatsstreiches:
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.