Der Staatsstreich in Konstantinopel.
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Pascha zeigte zu jener Jett, wenn nicht Sorg
losigkeit, so doch eine Unkenntnis dessen, was
vorging, wie sie die Welt noch nicht erlebt
hatte. Einerseits war es über den Balkanbund
nicht unterrichtet, anderseits entlieh es auf ein
mal 120.000 Mann von den in Rumelien
stehenden Truppen. Wenn diese Mannschaften,
die nach der Verkündigung der Verfassung besser
als andere Truppen ausgebildet wurden, am
Kriege teilgenommen hätten, so würden sie
sicher großen Mut bewiesen haben. Gleichzeitig
fügte die Regierung ihrer Sorglosigkeit eine
große Dummheit hinzu. Sie berief für die Ab
haltung von Manövern die Reserven der euro
päischen Türkei unter die Waffen. Die Balkan
staaten nahmen aus diesem Schritt Veranlassung
zu Verhandlungen. Es wird behauptet, der
russische Zar habe den Auf
schub des Krieges bis zum
Frühjahr angeraten. König
Ferdinand habe aber darauf
die Feindseligkeiten beschleu
nigt mit der Motivierung,
man könne nicht wissen, ob
im Frühjahr noch in der
Türkei ein so unfähiges
Kabinett am Ruder sei.
Während unser großer
Generalstab schon längst
einen Feldzugsplan für einen
Krieg mit den Balkanstaaten
bereit hatte, sah nicht
nur das Kabinett Ahmed
Mukhtar Pascha von der
Ausführung dieses planes
ab, sondern ernannte auch
unfähige Armeekomman
danten. Hierdurch wurde
unsere Armee zu den Rieder
lagen bei Kirkkilisse und
Lüle Burgas verurteilt, während die Welt über
zeugt war, sie würde siegreich aus dem Kampfe
hervorgehen.
Das Kabinett Ahmed Mukhtar Pascha und
das auf dieses folgende Kabinett Kiamil Pascha,
statt sich mit der Untersuchung und der Beseiti
gung der Ursachen unserer Riederlagen zu be
schäftigen, sahen es für eine wichtigere Pflicht an,
mit den Geschicken der Ration zu spielen, Haus
durchsuchungen vorzunehmen, sowie patriotische
Männer zu verfolgen und zu verhaften. Diese
Kabinette verminderten einerseits die Kampf
fähigkeit unserer Armeen durch die Ernennung
ungebildeter und unfähiger Kommandanten,
anderseits schläferten sie durch solche Verfolgungen
die patriotischen Gefühle und den Eifer unseres
Volkes ein. Man begann zu glauben, es be
stehe keine Einheit der Gesinnung und der
gegenseitigen Interessen zwischen dem kämpfenden
Heere und dem Volke, zu dem es gehört. Be
sonders aber gab sich das Kabinett Kiamil
Pascha mit verräterischen „Hafijes" und mit
Denunziationen ab, die an die Zeit Abdul
Hamids erinnerten. Wenn man in Erwägung
zieht, daß trotz unserer den Sieg verheißenden
Stellung in Tschataldscha ein Waffenstillstand
mit übermäßig günstigen Bedingungen für die
Bulgaren abgeschlossen wurde, so tritt es an
den Tag, daß das Kabinett Kiamil Pascha
den Frieden im voraus beschlossen hat, ohne
das Interesse des Vaterlandes und der Ration
ins Auge zu fassen. Die Abtretung der ganzen
europäischen Türkei, abgesehen vom Vilajet
Adrianopel, die in der dritten Friedenskonferenz
erfolgte, ließ diese Absichten der Regierung
klar hervortreten. Die Balkanstaaten erwogen,
daß es ein großer Fehler
sein würde, wenn sie von
einer so nachgiebigen Re
gierung nicht auch die Ab
tretung Adrianopels und
der Inseln verlangten, und
bestanden auf diesen Punk
ten. Dank den Fähigkeiten
ihrer Londoner Bevoll
mächtigten gewannen sie
auch das Interesse der Groß
mächte für ihre Forderungen.
Die Mächte rieten daher
durch einen gemeinsamen
Schritt der aus unfähigen
und törichten Elementen be
stehenden osmanischen Re
gierung die Abtretung
Adrianopels und die Über
lassung der Archipelfrage
für die Entscheidung durch
die Mächte. Aus den
Erörterungen, die in der
gestrigen Ratsversammlung angestellt wurden,
geht hervor, daß das auch die Meinung des
Kabinetts Kiamil Paschas war. Dieses Kabinett
schreckte nicht vor einer Verletzung der Ver
fassung zurück, nur, um das durch das Rach
geben in der Adrianopler Frage und der Insel-
frage begangene Verbrechen zu beschönigen. So
opferte sie einerseits die zweite Hauptstadt des
osmanischen Reiches und die künftige Hegemonie
im Agäischen Meere auf. Anderseits verletzte
sie das höchste Recht des osmanischen Volkes.
Diese Ration konnte eine Regierung nicht
länger ertragen, die vor 6 bis 7 Monaten ihre
Grundrechte anzutasten wagte, die vor der Ab
tretung der europäischen Türkei nicht zurückschreckte,
die sich scheute, die Verteidigungskraft des Landes
auszunutzen, wie es sich gehörte. In Augen
blicken, wo die Zukunft des Landes und die
höchsten Interessen der Ration in Gefahr sind,
Talaat Bey.