Volltext: Illustrierte Geschichte des Balkankrieges 1912 - 13 Zweiter Band (Zweiter Band / 1914)

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Der Staatsstreich in Konstantinopel. 
□□ 
sofort nach Mahmud Schefket Pascha sandte 
und ihn zum Marschall und Großwesir er 
nannte. 
Um 8 Uhr abends kam Mahmud Schefket 
Pascha, begleitet vom Kämmerer Mi Fuad Bey 
und Enver Bey auf die Pforte. Ali Fuad Bey 
verlas von den Stufen herunter den kaiserlichen 
Irade. Hierauf sprach Mahir Effendi, früherer 
Deputierter von Kastamuni, ein Gebet. Mahmud 
Schefket hielt eine kurze Ansprache. Er werde 
sein äußerstes tun, um das Vaterland zu retten, 
müsse aber dazu von der ganzen Ration unter 
stützt werden. Er bat darauf die Menge, sich 
zu zerstreuen, was auch geschah. 
Der Minister des Äußern, Roradunghian, 
hatte eine zweistündige Unterredung mit Talaat 
Bey, nach welcher er allen türkischen Botschaften 
telegraphierte, daß ein Regierungswechsel ein 
getreten und alles in der 
Hauptstadt ruhig sei. (setzt 
durfte Roradunghian sich nach 
Hause begeben, ebenso der 
Unterrichtsminister Damal 
Scherif. Enver Bey wurde 
zum Palastkommandanten er 
nannt. 
* * * 
Es ist natürlich, daß bei 
einem so außerordentlich wich 
tigen Ereignis, das sich noch 
dazu unter gewissen tumul- 
tuarischen Szenen vollzog, die 
Lesarten weit auseinander 
gehen, wenigstens so weit 
die Einzelheiten in Betracht 
kommen. Ms Tatsache stand 
jedoch sofort fest, daß die 
Regierung Kiamil Paschas 
durch einen Gewaltstreich 
Enver Beys beseitigt worden war, und daß 
bei diesem Anlaß der bisherige Kriegsminister 
Razim Pascha seinen Tod gefunden hatte. 
Man durfte auch als gewiß annehmen, daß 
Enver Bey nicht aus eigener Initiative, 
sondern als Beauftragter des jungtürkischen 
Komitees, und vor allem des jungtürkischen 
Teils des Offizierskorps handelte. Das Ein 
verständnis mit den Jungtürken geht schon 
äußerlich daraus hervor, daß Talaat Bey, einer 
der jungtürkischen Führer, an dem putsch sich 
aktiv beteiligte. Die Ernennung Mahmud Schef 
ket Paschas, der den Sultan Abdul Hamid ent 
thront hatte, zum Großwesir, die dem Sultan 
durch Enver Bey vorgeschlagen, um nicht zu 
sagen aufgezwungen wurde, läßt die Vermutung 
aufkommen, daß Mahmud Schefket um den 
putsch gewußt hat, und daß die jungtürkischen 
Offiziere im voraus überzeugt sein konnten, 
daß er die angebotene Stellung auch wirklich 
übernehmen würde. 
Ob der putsch, der von Enver Bey mit 
außerordentlicher Kühnheit durchgeführt wurde, 
schon seit längerer Zeit vorbereitet war, oder 
ob erst der Ausgang der Sitzung des Großen 
Rates den Gedanken an die Beseitigung des 
Kabinetts Kiamil hervorrief, ist nicht festge 
stellt. Es ist aber wahrscheinlich, daß die seiner 
zeit so brüsk beseitigten Jungtürken seit ihrem 
Sturz nur auf die Gelegenheit warteten, vor 
zudringen, und daß sie eben den Augenblick, in 
welchem Adrianopel und fast der gesamte euro 
päische Besitz der Türkei an die Verbündeten ab 
getreten werden sollte, für geeignet hielten, ihre 
Pläne auszuführen. Sie rechneten damit, daß 
die Abtretung Adrianopels in der Türkei, und be 
sonders beim Offizierskorps außerordentliche Miß 
stimmung erzeugen mußte, 
und daß die Beseitigung des 
Kabinetts, das diese Ab 
tretung bereits beschlossen 
hatte, ihnen die verlorene 
Popularität wieder gewinnen 
konnte. Sie hatten den Krieg 
verschuldet, ihrer Politik war 
der Zusammenbruch der türki 
schen Armee zuzuschreiben, 
nun versuchten sie, als Retter 
in der höchsten Rot, die Herr 
schaft an sich zu reißen, und 
dieser Versuch ist gelungen. 
Der putsch vom 23. Januar 
ist für die weitere Geschichte 
des Balkankrieges und für 
die Türkei überhaupt von 
außerordentlicher Bedeutung 
geworden, und wir bemühen 
uns deshalb, um ein mög 
lichst genaues Bild der Vor 
gänge zu erhalten, alle darauf bezüglichen Be 
richte und Schilderungen zusammenzufassen. 
Detailbericht über den jung türkischen 
putsch. 
Eine zusammenhängende Darstellung finden 
wir im „Osmanischen Lloyd", dem in deutscher 
Sprache erscheinenden Konstantinopler Blatt, 
vom 24. Januar. Die Zensur allerdings hat 
fast die Hälfte des Berichtes unterdrückt; es 
findet sich eine Anzahl von weißen Stellen in 
dem Bericht, die wohl auf das Vorgehen Enver 
Beys und den Tod Razim Paschas Bezug 
hatten und deshalb nicht veröffentlicht werden 
durften. Der zensurierte Bericht lautet: 
Roch ehe die Pforte ihre durch die Entschei 
dung der Ratsversammlung gestützte Antwort 
note den Vertretern der Mächte überreichen 
Aazim Pascha, der erschossene Kriegsminister.
	        
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