Volltext: Illustrierte Geschichte des Balkankrieges 1912 - 13 Zweiter Band (Zweiter Band / 1914)

Der Staatsstreich in Konstantinopel. 
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unterjochten, bildete unser Land eine Oase der 
Freiheit, von der namentlich die Bulgaren bis 
1879 reichlich Gebrauch machten. In Rumänien 
lebten und wirkten ihre Flüchtlinge. Die erste 
bulgarische Schule, die es überhaupt gab, die 
in Tirnowa, wurde von Rumänien erhalten. 
1 868 mußte der liberale rumänische Minister 
Bratianu, der Vater des gegenwärtigen Staats 
mannes, auf das Drängen Frankreichs zurück 
treten, weil er im Verdacht stand, Hilfsscharen 
gegen die Türken organisiert zu haben. In 
ihrem Befreiungskämpfe von 1376 bis 1878 
stellten wir den Bulgaren zwei Legionen zur 
Verfügung, und als die von den Russen ge 
schlagene türkische Armee sich sengend und 
brennend gegen die Donau zurückzog und die 
entsetzte bulgarische Bevölkerung vor ihr her floh, 
nahmen wir wieder eine große Zahl dieser 
Flüchtlinge für immer auf. Uber unsere Rolle 
im russisch-türkischen Krieg, dem Bulgarien seine 
Existenz verdankt, brauche ich wohl nicht zu 
sprechen. 
Haben die Bulgaren das alles vergessen? 
Wir stellen unsere Forderungen an sie, weil 
wir die vom Berliner Vertrag uns gesetzten 
Grenzen nie anerkannt haben, weil unsere 
Schwarte Meerküste viel zu beengt ist und 
weil Silistria ein vorzüglicher Platz für eine 
Donaubrücke ist. Unsere Eisenbahnbrücke führt 
über die geteilte Donau, über ein Inundations- 
gebiet, so daß die Brücke nicht weniger als 
14 Kilometer lang ist. Bei Silistria aber ließe 
sich über die ungeteilte Donau leicht eine 
Brücke anlegen, die eine internationale Rot 
wendigkeit wäre, da es bis Ungarn hinauf 
keine Donaubrücke gibt. Die Bulgaren ver 
folgen ihre alte Taktik. Der Berliner Vertrag 
hatte uns das zu Silistria, das bulgarisch 
wurde, gehörige Fort Rabat Akeh zugesprochen. 
Die Bulgaren weigerten sich aber, das Fort 
herzugeben und taten das erst in der Rotlage, 
in welche sie ihr Krieg mit Serbien versetzte. 
Jetzt werden sie sich beeilen müssen. 
Der bulgarisch-rumänische Streit hatte sich, 
wie man sieht, stark zugespitzt und es war da 
mals bereits von einem rumänischen Einmarsch 
oder von einem Ultimatum die Rede. Bedeutendere 
Ereignisse auf dem Welttheater ließen diesen 
Zwist eine Zeitlang in den Hintergrund treten. 
Der Staatsstreich 
^^^^'ährend in London die Delegierten der 
r'#)/l3l Balkanstaaten die Unterhändler der 
^ärkei zu majorisieren und zu brutali- 
j- jeren suchten, um einen raschen Ver 
zicht der Pforte auf die europäische Türkei zu er 
zwingen, während in Konstantinopel selbst die 
Botschafter der Großmächte die wohlmeinenden 
Ratschläge Europas dem Minister des Äußern 
in höflichen Worten vortrugen, Ratschläge, deren 
Befolgung das ottomanische Reich aus Europa 
verdrängt hätte, bereitete sich unter der verhält 
nismäßig ruhigen Oberfläche im türkischen 
Reiche eine Umwälzung vor, die all diesen 
Bestrebungen ein vorläufiges Ende setzte. Ab 
und zu sickerten Gerüchte von einer Militär 
verschwörung, von einem Wiederauftauchen der 
Jungtürken durch, aber niemand hielt sie für 
wahrscheinlich. Gab man doch nicht nur in der 
Türkei den Jungtürken die Schuld an dem Zu 
sammenbruch der Armee. 
Großwesir Kiamil Pascha hatte, um eine 
Rückendeckung für seine Regierung zu haben, 
den sogenannten Großen Rat einberufen. Der 
Große Rat hat die Verpflichtung, der Regierung 
in ihren Friedensabsichten zuzustimmen. Er trat 
am 22. Januar zusammen und es wurde folgen 
der offizielle Bericht über die Sitzung ausgegeben: 
in Konstantinopel. 
Die ratgebende Versammlung ist heute um 
7a) Uhr nachmittags im palaste von Dolma- 
bagdsche in dem für den Empfang der Bot 
schafter bestimmten, im zweiten Stockwerke be 
findlichen Saale zusammengetreten. In diesem 
Augenblick — 1 Uhr nachmittags — treffen 
noch immer Eingeladene ein. Vor dem Palast 
sind nur wenige Reugierige zu bemerken. 
Prinz Said Halim und sämtliche Mitglieder 
des Kabinetts wohnten der Beratung bei. 
Vor der Eröffnung der ratgebenden Ver 
sammlung empfing der Sultan die Prinzen 
Fahr Eddin und Abdul Medschid und hierauf 
in deren Anwesenheit den Großwesir und den 
Scheich ul Islam. Die Prinzen wohnten in 
ihrem an den Verhandlungssaal anstoßenden 
Salon den Beratungen bei. Der Großwesir 
erklärt die Versammlung im Ramen des Sultans 
für eröffnet. Sodann verlas der Generalsekretär 
des Ministerrates die Kollektivnote der Bot 
schafter in türkischer Übersetzung, worauf der 
Kriegsminister ein Bild der Lage der Armee 
entwarf. 
Ihm folgte der Finanzminister mit einer 
ausführlichen Darstellung der finanziellen Lage. 
Sodann erhob sich der Generalsekretär des 
Ministerrates neuerlich, um im Ramen des
	        
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