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belastet, oder wenigstens nicht mit voller Wucht. So befreit
uns der Traum von verborgenen Wünschen, unter deren Un—
erfüllbarkeit wir stöhnen.
In der Tat liegt im Traumdeuten „verborg'nes Gift, und
von der Arzenei ist's kaum zu unterscheiden“. Von den
Milliarden Träumen, in Mens chenhirnen gewoben, kommt glück—
licherweise nur eine verschwindende Anzahl zur Deutung.
Freud ist von seinen Patienten zur Traumdeutung gedrängt
worden. Sie erzählten ihm immer wieder Träume, bis der
Psycholog erkannte, daß diese Leidenden ihm in der Sprache
des Traumes etwas mitzuteilen hatten. Da blieb ihm nichts
anderes übrig, als diese Sprache zu studieren, wie Weise im
Maͤrchen die Sprache der Vögel erlernen.
Nach Freuds Veröffentlichung von 1900 blieb etwa zehn
Jahre bang das Echo stumm. Aber hernach bemächtigten sich
viele der neuen Waffe und wenden sie nicht immer zum Wohle
der Mitmenschen an. Verlange niemand, der unbeschwert
dahinlebt, das verschleierte Bild seiner Träume zu schauen!
Traumdeutung als Gesellschaftsspiel hat unberechenbave
Folgen. Lasset den Schweinchen ihren Stall, solange sie sich
wohl darin fühlen und fröbhlich fressen! Wenn man aber
darangeht, einen Schweinestall auszuputzen, dann soll es
gründlich geschehen. Eine halbe Psychoanalyse, eine aus dem
Zusammenhang des Lebens geriss ene Traumdeutung ist gefähr⸗
lich wie eine Operation, die vom Chirurgen in der Mitte ab⸗
gebrochen wird. J
Ein Mann mit Namen Jedermann ist verheiratet.
Seine Frau gefällt ihm nicht mehr. Fürs erste ist sie immer
da und allzu leicht zu haben. Fürs zweite kostet sie viel Geld.
Fürs dritte ist er auf Lebenszeit an sie gebunden. Da ist die
Frau seines Freundes, die ihm viel besser gefällt. Bei ihr
fallen alle Belastungen weg, die er bei der eigenen mitschleppen
muß. Er träumt von der Frau seines Freundes, daß sie zu ihm
kommt und daß er ihrer in Seligkeit froh wird. Jedermann
ist ein sittlicher Mensch und nicht so leicht fähig, seinen Freund
zu betrügen. Auch ist er sich der Liebe zur Frau des Freundes
nicht bewußt. Ursprünglich war er gegen die Heirat des
Freundes gewesen, weil er fürchtete, die Freundschaft könnte
durch Eintritt einer dritten Person Schaden leiden. Nur der
geübte Deuter erkennt im Traum den Ehebruch. Jedermann