Volltext: Die Psychoanalyse [538/540]

76 
belastet, oder wenigstens nicht mit voller Wucht. So befreit 
uns der Traum von verborgenen Wünschen, unter deren Un— 
erfüllbarkeit wir stöhnen. 
In der Tat liegt im Traumdeuten „verborg'nes Gift, und 
von der Arzenei ist's kaum zu unterscheiden“. Von den 
Milliarden Träumen, in Mens chenhirnen gewoben, kommt glück— 
licherweise nur eine verschwindende Anzahl zur Deutung. 
Freud ist von seinen Patienten zur Traumdeutung gedrängt 
worden. Sie erzählten ihm immer wieder Träume, bis der 
Psycholog erkannte, daß diese Leidenden ihm in der Sprache 
des Traumes etwas mitzuteilen hatten. Da blieb ihm nichts 
anderes übrig, als diese Sprache zu studieren, wie Weise im 
Maͤrchen die Sprache der Vögel erlernen. 
Nach Freuds Veröffentlichung von 1900 blieb etwa zehn 
Jahre bang das Echo stumm. Aber hernach bemächtigten sich 
viele der neuen Waffe und wenden sie nicht immer zum Wohle 
der Mitmenschen an. Verlange niemand, der unbeschwert 
dahinlebt, das verschleierte Bild seiner Träume zu schauen! 
Traumdeutung als Gesellschaftsspiel hat unberechenbave 
Folgen. Lasset den Schweinchen ihren Stall, solange sie sich 
wohl darin fühlen und fröbhlich fressen! Wenn man aber 
darangeht, einen Schweinestall auszuputzen, dann soll es 
gründlich geschehen. Eine halbe Psychoanalyse, eine aus dem 
Zusammenhang des Lebens geriss ene Traumdeutung ist gefähr⸗ 
lich wie eine Operation, die vom Chirurgen in der Mitte ab⸗ 
gebrochen wird. J 
Ein Mann mit Namen Jedermann ist verheiratet. 
Seine Frau gefällt ihm nicht mehr. Fürs erste ist sie immer 
da und allzu leicht zu haben. Fürs zweite kostet sie viel Geld. 
Fürs dritte ist er auf Lebenszeit an sie gebunden. Da ist die 
Frau seines Freundes, die ihm viel besser gefällt. Bei ihr 
fallen alle Belastungen weg, die er bei der eigenen mitschleppen 
muß. Er träumt von der Frau seines Freundes, daß sie zu ihm 
kommt und daß er ihrer in Seligkeit froh wird. Jedermann 
ist ein sittlicher Mensch und nicht so leicht fähig, seinen Freund 
zu betrügen. Auch ist er sich der Liebe zur Frau des Freundes 
nicht bewußt. Ursprünglich war er gegen die Heirat des 
Freundes gewesen, weil er fürchtete, die Freundschaft könnte 
durch Eintritt einer dritten Person Schaden leiden. Nur der 
geübte Deuter erkennt im Traum den Ehebruch. Jedermann
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.