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manchen Wilden, und bei Kindern scheinen diese beiden gegen—
fätzlichen Pole gleichzeitig im Bewußtsein existieren zu können.
Freud nennt das gleichzeitige Vorhandensein entgegengesetzter
Gefühle mit einem Ausdruck des Nervenarztes Bleuler,
Ambivalenz, und die Analyse operiert mit diesem Begriffe,
der insofern ein Grundbegriff dieser Wissenschaft geworden
ist, als der nervöse Mensch hauptsächlich dadurch auffällt, daß
er sich schwer entscheiden kann. Alles, was er will, will er auch
vieder nicht. So kommt er zum Arzt und will offenbar gesund
werden. Wenn der Arzt dann die Behandlung beginnt, ent—
deckt er zu seinem Erstaunen, daß der Patient oder wenigstens
ein unbewußtes Stück des Patienten gar nicht gesund werden
will und der Heilung Widerstand entgegensetzt. Der Physiker
würde sagen, daß die nervöse Erkrankung ein Trägheits⸗
moment enthalte, so daß sie dem Kranken, obgleich sie ihn
quält, ein Gleichgewicht seines Seelenlebens vorspiegelt, aus
dem er sich nicht leicht hinausmanövrieren läßt. Der nervöse
Kranke ist regelmäßig in seine Krankheit verliebt. Im Falle des
Hypochonders wird das besonders deutlich. Bis zu einem
gewissen Grad ist aber jeder Nervöse ein Hypochonder. Er
wird sich am leichtesten zu einer Heilung bequemen, *wenn in
seinem Leben glückliche Umstände eintreten, die ihn ver—
anbassen, das Stück Liebe, welches er seiner Krankheit zu⸗
gewendet hat, auf ein Objekt in der Außenwelt zu vers chieben.
So ist die Wahrheit der volkstümlichen Meinung zu verstehen.
daß die Liebe die Nervosität heile. Man rat ja wohl nervösen
Mädchen zur Heirat. Unter Umständen ist der Arzt selbst, an
den sich der Nervöse wendet, zunächst das Objekt, auf welches
die Liebe übertragen werden muß, damit der nach innen
gekehrte kranke Mensch wenigstens irgendwo, und sei es im
Drdinationszimmer, ein Obijekt findet, für das es sich lohnt,
die Liebe zur Krankheit herzugeben. Man muß sich längere Zeit
mit diesen so verwickelten Verhältnissen abgegeben haben, um
zu verstehen, wie es gemeint ist.
Da dieses Büchlein für Laien geschrieben ist, so ist wohl
schon genug mitgeteilt worden, um Kopfschütteln und Wider—
spruch zu erregen. Deshalb mögen einige Fälle aus der Praxis
des täglichen Lebens zeigen, wie weit man mit der hier vor⸗
getvagenen Auffassung zu einem Verständnis sonst unbegreif⸗
licher Verhältnisse gelangen kann. Im Jänner 1927 wurde in
Dr. Wittels: Psychoanalyse.