Volltext: Die Psychoanalyse [538/540]

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so gibt es da überhaupt keine vollkommenen Heilungen, sondern 
nur Besserungen mit gelegentlichem Wiederaufflackern des 
Prozesses, Vernarbungen, die man in der Medizin „Ausheilung 
mit Defekt“ nennt. Bei solchen Grenzen, die in der Heilkunde 
übevall bestehen, darf man von der Psychoanalyse nicht ver— 
bangen, daß sie aus einem einsamen, in sich gekehrten und 
lebensfeindlich eingestellten Menschen einen Springinsfeld 
oder aus einem mißtrauischen Pedanten einen Bonvivant mache. 
Es muß schon genügen, wenn ein lebensunfähiger, mit sich und 
seiner Umgebung zerfallener Mensch sozial gemacht wird, 
wenn er sich der Realität anpassen kann, sich mit seinen Grenzen 
abfindet und nicht mehr leidet. Gerade Nervöse zeigen ein 
Ausmaß an Leiden, das Nietzsche zu dem Ausspruche be— 
vechtigte, ein hysterisches Mädchen, welches nachts in ihrer 
Kammer die Hände ringt, bringe vermutlich eine größere 
Quantität von Leiden auf als eine Armee von Verwundeten 
auf dem Schlachtfelde. Dabei ist freilich Leid und Kummer un— 
wägbar, so daß Nietzsches Bemerkung nur ein geistreiches 
Paradox bleibt. Selten wird ein körperlich Leidender, der 
wegen Schmerzen, Krämpfen, Lähmungen körperlicher Art zum 
Arzt kommt, gleich mit Selbstmordabsichten beginnen, wie das 
bei nervösen Erkrankungen so häufig ist, daß man kaäum 
einen Nervösen findet, der nicht mit dem Gedanken an Selbst⸗ 
mord gespielt hat. Was dem Nervösen droht, ist die Ver— 
zweiflung, die Entwertung des eigenen Lebens und des der 
Gemeinschaft, so daß der Hauptteil der ärztlichen Leistung voll⸗ 
bracht ist, wenn man den Nervösen mit seinem Leiden aus— 
gesöhnt hat. Die Psychoanalyse behauptet nicht, daß sie die 
einzige Methode sei, die solche Aussöhnung zuwege bringt. 
Magnetiseuve, Hypnotiseure, Cousisten, Moralprediger aller 
Art, heilige Grotten, Philosophen, Buddhisten, Drogen, Be⸗ 
schwörungsformeln, elektrische Kuren leisten oft ebenso gut und 
jedesmal schneller als die Psychoanalyse, was praktisch der 
wenigstens vorübergehenden Heilung eines Nervösen gleich— 
kommt. Was die Psychoanalyse von allen diesen Suggestiv⸗ 
methoden unterscheidet, ist die klare und wissenschaftliche 
Durchsichtigkeit ihres Arbeit. Sie gibt dem Patienten die Mög— 
lichkeit an die Hand, daß er sich und den Mechanismus seiner 
Krankheit durchschaue, sich und sein Milieu von oben sehe und 
daß er so mehr und Wertvolleres erwirbt als die praktische
	        
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