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Der Mann, der Vater und Mutter verläßt, um sich mit
fremden Weibern zu vermischen, nimmt aus dem Elternhaus
die stärkste aller Erinnerungen mit, die an die frühe Kindheit
und an die besondere Form der elterlichen Zärtlichkeit. Vom
Brausen der Brunst übertönt, kehrt sie gezeitenartig wieder und
drängt nach Neuerleben. Im Elternhause fehlten die Schauer
der Entladung. Sie wurden nicht entbehrt, weil sie dem Kinde
aAnbekannt waren. In den Armen der Geliebten wiederum
ehlt die Sicherheit des Besitzes, die Bürgschaft der Treue. Die
Frage, ob man an ihrer Brust selig-sorglos einschlafen dürfe,
hleibt unbeantwortet. So kindisch ist man, daß man diese Ant⸗
vort wunscht. Die Geliebte soll wie die Mutter sein. Das Bild
der Mutter wäre aber nicht vollständig, wenn der Zwang
fehlte, den Mutter (und Eltern überhaupt) auf ihr Kind aus—
üben, der Zwang des Stärkeren gegen das Schwächere, den
man Erziehung nennt und gegen den es keine Auflehnung gaibt.
Er ist das Dritte in der Erinnerung an das Elternhaus, die
us den Gefühlen der Ewigkeit, der Treue und des Zwanges
zusammengefetzt ist. Da haben wir das Mysterium — die Kirche
agt: das Sakrament der Ehe. Ein Zwang, den' nur der Tod
beendet. So gewiß die Eltern für das Kind ewig sind, denn sie
waren immer da; so gewiß Elternliebe und ⸗pflege verläßlich
sind, denn das kleine Kind fühlt wohl, daß es ohne sie verloren
väre, und so gewiß Zwang, der so stark ist, daß er gar nicht
empfunden wird, zur Aufzucht gehört — ebenso gewiß hat die
Geschlechtsliebe an sich mit diesen dreien nichts zu tun. Von
daher stammen letzten Endes alle Schwierigkeiten des ehelichen
Zusammenlebens. Wenn Kinder erzeugt werden, dann erhalten
die sakramentalen Qualitäten der Ehe Verstärkung aus dem
exneuten, wenn auch umgekehrten Kind⸗Eltern⸗Verhältnis.
Dann nennen sich auch die Gheleute untereinander Vater und
Mutter und glauben, daß sie es nach dem Beispiel ihvrer Kinder
tun. Sie tun es aber aus Erinnerung. Wenn sie es aus Er⸗
innerung tun, dann könnte man auch sagen: sie tun es aus
Irrtum. Irrtümlich werden in die geschlechtlichen Beziehungen
von Mann und Weib ehemalige, nicht mehr vorhandene Kind⸗
Eltern⸗Beziehungen hineingetragen. Diesen Irrtum ermöglichte
die menschliche Gesellschaft, als ihre s ozialen Bedingungen die
Ehe und die Familie schufen. Diesem Irrtum verdankt die Ehe
ihr Fortbestehen für den Fall, als die sozialen Bedingungen —
etwa die des industriellen Proletariats — sonst nicht unbeding
zugunsten der Einehe alten Stils sprechen.