Volltext: Im Weltkrieg und in der Nachkriegszeit (II. Band / 1929)

Zusammenbruch, Umsturz. 
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über das ohnehin so schwer geprüfte Land zu bringen, ist mit eines 
der Verdienste der Soldatenschaft, die sich rechtzeitig darauf be¬ 
sann, dem Volke, und nur ihm, die Treue zu halten. — 
Der 12. November sah unter dem Jubel der Arbeitermassen zum 
ersten Male die Fahnen der Republik. Zu denen, die sich um sie 
scharten, gehörten in erster Linie die politischen und gewerkschaft¬ 
lichen Organisationen der Arbeiterklasse. Ohne deren Mithilfe wäre 
es nie zur Republik gekommen, wie sie ohne ihre Treue sich keine 
vierundzwanzig Stunden lang hätte behaupten können. 
Nach dem Siege über die Mächte der Vergangenheit galt es, 
das neue Haus zu zimmern. Schlimm genug sah es freilich aus, als 
die junge Republik geboren wurde. Das Volk ohne Nahrungsmittel 
und Bekleidung, die Industrie ohne Rohstoffe und Kohle, die Land¬ 
wirtschaft bis zum Mark ausgesogen —, es war eine schreckliche 
Zeit. Dazu die Straßen und Bahnen von den regellos zurückfluten¬ 
den Scharen der Frontsoldaten überfüllt, die jeden Augenblick über¬ 
einander herzufallen drohten. Da brauchte es die ganze Kraft und 
Umsicht der leitenden Männer, wie ein tiefes Verständnis der Volks¬ 
massen für das, was möglich und notwendig war, um dem Chaos 
zu entgehen. 
Die Regierung des neuen Staates stand unter der Führung der 
Sozialdemokraten. Wohl waren sie nicht alleinherrschend, aber sie 
besetzten die wichtigsten Staatsämter. Für die gewerkschaftliche 
Entwicklung am bedeutsamsten war die Ernennung Ferdinand H a- 
nusch’ zum Staatssekretär für soziale Verwaltung. Mit dem Ein¬ 
zug dieses erfahrenen, scharf wägenden und klugen Gewerkschafters 
in jenes Amt, das für das Schicksal der Arbeitermassen unmittel¬ 
barste Bedeutung besitzt, begann eine Ära großer sozialer Reformen, 
die ihresgleichen bisher nicht hatte. 
Freilich wurden diese Reformen nicht ohne schwere, leiden¬ 
schaftliche Kämpfe durchgesetzt. Aber die Arbeiterklasse Deutsch¬ 
österreichs kann den Ruhmestitel für sich in Anspruch nehmen, in 
der historischen Zeit des Überganges von der Monarchie zur Re¬ 
publik, wie in der späteren Zeit des gesellschaftlichen, wirtschaft¬ 
lichen und rechtlichen Aufbaues die führende Kraft gewesen zu 
sein. „Seit dem 3. Oktober 1918 war jede Initiative in Deutsch¬ 
österreich von der Arbeiterklasse, von der Sozialdemokratie aus¬ 
gegangen. Die Bourgeoisie hatte uns immer wieder gehemmt und 
gehindert; aber die Initiative war immer in unseren Händen*).“ 
~ * 
*) Otto Bauer: „Die österreichische Revolutio n“, Verlag 
der Wiener Volksbuchhandlung, Wien 1923. Seite 271.
	        
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