Volltext: Im Weltkrieg und in der Nachkriegszeit (II. Band / 1929)

Sanierung und Krise. 
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Stabilisierung sollte den Mitgliederstand der Gewerkschaften bald 
wieder auf jene reduzieren, die nicht Konjunktur, sondern Über¬ 
zeugung und Solidaritätsbedürfnis den Organisationen zuführte. 
Die Inflationszeit hatte die Gewerkschaften in den Augen vieler zu 
einem Lohnautomaten gemacht, der die Löhne durch Indexanwen¬ 
dung der Preissteigerung anzupassen hatte. Nach der Währungs¬ 
stabilisierung hörte die Automatik auf, galt es wieder in zähem 
Ringen, in schweren Kämpfen die Reallöhne zu heben. Im Umsturz 
und in der Inflationskonjunktur war es leicht gewesen, Erfolge zu 
erzielen, die sozialpolitischen Errungenschaften waren der Arbeiter¬ 
schaft als reife Früchte in den Schoß gefallen, sie waren zur Selbst¬ 
verständlichkeit geworden — in der Sanierungskrise mußte man 
mit kleinen sozialpolitischen Errungenschaften, oft mit der Behaup¬ 
tung des Errungenen zufrieden sein. Bis 1922 fühlte sich die Ar¬ 
beiterschaft als die entscheidende Macht im Staate. Genf hatte das 
Machtbewußtsein der Bourgeoisie gestärkt und durch die auslän¬ 
dische Finanzkontrolle einerseits, durch Aufrüstung bewaffneter 
Gegenorganisationen gegen die Arbeiterschaft andererseits, ihre 
Machtmittel vergrößert. Die Arbeiterschaft hatte von nun an ihre 
Kämpfe gegen das in- und ausländische Kapital, gegen Regierung 
und Generalkommissär, gegen Unternehmer und ihre ausländischen 
Hintermänner, gegen Unternehmerorganisationen und faschistische 
Söldnerwehren zu führen. Kampf, aber erschwerter komplizierter 
Kampf, Kampf, der von den Mitgliedern nicht Mitläufertum, sondern 
gewerkschaftliche Überzeugungstreue, gewerkschaftliche Schulung 
und Verständnis erforderte, das waren die neuen Probleme, denen 
die Gewerkschaften nach der Sanierung gegenüberstanden. 
Mehr als eine Million Mitglieder zählte die österreichische freie 
Gewerkschaftsbewegung unmittelbar nach Genf*). 49 Zentralver¬ 
bände, davon 2 mit mehr als 100.000 Mitgliedern (Eisenbahner, Metall¬ 
arbeiter), 3 mit mehr als 50.000 Mitgliedern (Bauarbeiter, Land¬ 
arbeiter, Textilarbeiter), waren die Träger der gewerkschaftlichen 
Macht. 14 Lokalvereine, 27 Ortsverbände und 83 Gewerkschafts¬ 
sekretariate außerhalb Wiens waren der Beweis der weitgehenden 
Verzweigtheit der österreichischen freigewerkschaftlichen Be wegung. 
Daneben mußten die christlichen Gewerkschaften mit ihren 78.737 
Mitgliedern (vorweg Textilarbeiter, Hausbesorger und Hausgehil¬ 
finnen), die deutschen mit ihren 50.000 Mitgliedern (fast die Hälfte 
*) Vergleiche Bericht der Gewerkschaftskommission Deutschösterreichs 
an den 2. ordentlichen deutschösterreichischen Gewerkschaftskongreß. 
Wien, A. Hueber, 1923.
	        
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