Volltext: Aufgaben und Probleme der sozialen Fürsorge und der Volksgesundheitspflege bei Kriegsende

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Vor allem ist zu fürchten, daß aus den oben geschilderten 
Verhältnissen des engeren Kriegsgebietes mancher Soldat erheb 
lich gelockerte Anschauungen über das Verhältnis der Geschlechter 
zueinander nach Hause bringt. Aber auch im Hinterland dürften 
die Anschauungen über die Beziehungen der Geschlechter zu ein 
ander — und diese Anschauungen sind ja von größtem Einfluß' 
auf die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten — infolge des 
Krieges manche Aenderung erfahren. Der Krieg selbst hat zu einer 
Lockerung der Familienbande geführt; unter den 
geschlechtskrank gewordenen Ehemännern finden sich zweifellos 
gar viele, die niemals einen Seitensprung getan hätten, wenn sie 
ruhig am heimischen Herd verblieben wären. Aehnliches gilt auch 
von der weiblichen Bevölkerung; gar manches Ehedrama wurde 
veranlaßt durch die „Geschlechtsnot“ der von ihrem Manne ge 
trennten Frau — und noch viel zahlreicher sind ja die Fälle, bei 
denen es nicht zu einem Drama gekommen. 
Aber auch auf die Anschauungen der unverheirateten weib 
lichen Bevölkerung hat der Krieg eingewirkt. Schon vor Jahren 
haben namhafte Schriftsteller darauf hingewiesen/daß in Arbeiter 
kreisen und kleinbäuerlichen Kreisen 'das junge Mädchen in sexueller 
Beziehung sich von jeher ähnlicher Freiheiten erfreut wie der 
junge Mann, daß aber auch in kleinbürgerlichen und bürgerlichen 
Kreisen mit der zunehmenden Selbständigkeit des weiblichen Ge 
schlechtes, mit dem Heraustreten der Mädchen aus dem Hause in 
die Berufstätigkeit sich die geltenden moralischen Anschauungen 
lockern; auch die Mädchen dieser Kreise beginnen, größere Freiheit 
für sich in Anspruch zu nehmen; die Entwicklungstendenz der 
letzten Jahrzehnte ist darauf gerichtet, auch den jungen Mädchen 
der „besseren“ Stände Freiheiten zu gewähren, die früher nur 
denen der unteren Stände gestattet waren. Diese Entwicklung nun 
hat eine wesentliche Beschleunigung durch den Krieg erfahren; 
die gewaltige Ausdehnung der Frauenarbeit hat viele Frauen und 
Mädchen berufstätig gemacht, hat sie unabhängig gemaqht von der 
elterlichen Häuslichkeit und deren Anschauungen — eine Un 
abhängigkeit, deren Folgen noch gesteigert wurden durch die 
Lockerung aller hergebrachten Anschauungen, die' außerordent 
liche Zeiten, außerordentliche Verhältnisse und die mit ihnen ver 
knüpften seelischen Aufregungen und Erschütterungen . stets mit 
sich bringen. 
Dazu kommt als weiteres Moment von großem Einfluß die 
verminderte Heiratsmöglichkeit infolge des großen Verlustes an 
jungen Männern durch den Krieg. Kamen nach der Volkszählung 
1910 in Oesterreich auf 3,815.692 Frauen von 20 bis 40 Jahren 
3,707.211 Männer, so daß sich ein Frauenüberschuß von 108.481 
ergab, so wird nach dem Kriege dieser Ueberschuß auf rund 
400.000 gestiegen sein, ohne Berücksichtigung der. nicht heirats 
fähigen Invaliden, ein Umstand, der direkt sowohl als auch indirekt 
durch Hinwegräumung bisher bestandener innerer Hemmungen 
zu einer Vermehrung des außerehelichen Geschleciitsverkehrs 
führen muß. 
Ob dieser Gang der Entwicklung zu einer größeren Freiheit 
und Ungebundenheit des weiblichen Geschlechtes in sexueller Be 
ziehung, der durch den Krieg auch in den Schichten des mittleren 
Bürgertums eine sehr beträchtliche Beschleunigung erfahren 
haben dürfte, wünschenswert sei oder nicht, das haben wir nicht
	        
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