Volltext: Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. Neunter Band. (Neunter Band)

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Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/18. 
Rußland verkaufen 
könnten. Es war ja 
viel einfacher für 
die Bolschewik!, zu 
sagen: Wir enteig 
nen euch und zah 
len keine Kopeke! 
Selbst aber gesetzt 
den Fall, daß die 
Ländereien ver 
kauft werden konn 
ten und das Kauf- 
gcld richtig einkam, 
bestand noch im- 
nrer die E. fahr, 
daßihnendasEeld 
unterwegs abge 
nommen würde. 
Seitdem ist der 
Bruch zwischen 
Berlin und Pe 
tersburg völlig ein 
getreten, und wir 
müssen abermals 
die vielgeprüften 
Kolonisten, sowohl 
die im Osten des 
ehemaligen Zaren 
reiches als auch die 
in der Ukraine, 
ihrem hoffnungsarmen Schicksale überlassen. 
Statt andere Siedler heranzuziehen, werden im Gegen 
teile die Balten daran denken nrüssen, ihre eigenen Güter 
ganz oder teilweise zu verkaufen. Bisher besaßen die 
Deutschen, die 8 bis 8 v. H. der Bevölkerung im Baltikum 
ausmachten, weit über die Hälfte, in Estland sogar über 
90 v. H. voin Grund und Boden. Nachdem einmal die 
Volksrepublik erklärt worden ist, besteht, zumal von Anfang 
an die Republikaner bolschewistisch gefärbt waren, die G.fahr 
der Enteignung. In Vorausahnung der ihnen drohenden 
Gefahr haben denn auch schon im September und Oktober 
einige Barone ihre Ländereien verkauft, meist mit der 
Absicht, sich in Süddeutschland oder den Alpenländern 
niederzulassen. Es ist merkwürdig: Obwohl die meisten 
Barone aus Norddeutschland» besonders aus Westfalen, 
stammen, habe ich noch nie einen getroffen, der für den an 
genommenen oder tatsächlichen Fall einer Übersiedlung 
Norddeutschland als neuen Wohnsitz ausgesucht hätte; alle 
vielmehr streben nach dem Süden. Diese Neigung ist gar 
nicht leicht zu erklären. Es scheint, daß München, das von 
Balten sehr häufig aufgesucht wird» eine ältere, ihrem Ge 
schmack mehr zuneigende Kultur besttzt als Berlin; möglich 
ist auch, daß man das Aufflammen eines deutschen Bol 
schewismus weniger im Süden fürchtet als im Norden. 
Wir haben die Abstammung der Barone berührt. So 
viel über die Frage geschrieben worden ist und so viele 
Spezialisten und Genealogen es unter den Balten selber 
gibt, ist doch die Frage noch nicht völlig geklärt, namentlich 
auch nicht der Anteil der einzelnen Rassen an dem Gesamt- 
bestande festgelegt. Sicher über die Hälfte sind deutschen 
Blutes. Danach an Zahl und Wichtigkeit kommen wohl 
die schwedischen Geschlechter. In dritter Linie reihen sich 
Westeuropäer ein, Schotten, wie die Lövis of Menar und 
Barclay de Tolly, und Franzosen. Von russischen Ge 
schlechtern wird Scheremetieff genannt. Auch die Polen 
sind nicht ganz unvertreten. Endlich sollen sich einheimische 
Fürsten bis heute fortgepflanzt haben; so schreibt man den 
Baronen Aderkas livischen Ursprung zu. Was mich am 
meisten verwunderte, war, einen Ziemlichen Schuß jüdischen 
Blutes vorzufinden. Ein solcher ist bei den berühmten 
Sammlern und Ästheten Liphart, bei den Eckhardt (bei 
diesen beiden durch Töchter eines Kapellmeisters David), 
bei Urküll (durch eine Tochter des Tuchindustriellen Barons 
v. Stieglitz), bei einem Zweige der Rosen und bei Samson 
Himmelstierna wahrzunehmen. Der Adel macht ein Z hntel 
des GZamtdeutschtums aus. Aber es gibt zweierlei Adel, 
einen, der zu der Matrikel gehört, einen landbesitzenden 
Uradel, der auf das 13. und 14. Jahrhundert zurückgeht, 
und einen jüngeren patrizischen Adel in den Städten, der 
sich gelegentlich mit dem anderen verschwägert hat. Auch die 
Esten von der Insel Kühno. 
Phot. Gebr. Haeckel, Berlin. 
Patrizier sind nicht 
selten, wie man 
an der Ostsee sagt: 
„besitzlich"; allein 
sie sind es durch 
Kauf, nicht durch 
Eroberung, und 
waren es kaum vor 
dem 18. Jahrhun 
dert. Die Bürger 
schaft ist ans ver 
schiedenen Teilen 
Deutschlands zuge 
zogen, hauptsäch 
lich vom Norden. 
Doch ist auch die 
Mitte und der Sü 
den des Vaterlan 
des vertreten. Man 
unterscheidet da 
wiederzwischen alt 
eingesessenen Fa 
milien, solchen, die 
ungefähr vor 1720 
im Lande waren, 
und solchen, die 
später eingewan 
dert sind. Unent 
schieden bleibt, ob 
Reichsdeutsche, die 
nach 1870 eintrafen, überhaupt zuden Balten zu rechnen seien. 
In erster Linie hatten sich die Balten mit den Urein 
wohnern, mit Letten und Esten, in zweiter Linie mit Juden 
und Russen abzufinden. Dazu stoßen jetzt noch die Eng 
länder. Früher stand das Baltikum eine Zeitlang unter 
polnischer und ferner unter schwedischer Herrschaft. In 
jüngster Zeit machte Litauen, wo tatsächlich die Polen die 
Macht ausüben, Ai.spräche auf Kurland, und es gab einzelne 
Kreise unter den Balten, die erneuten Anschluß an Schweden 
wünschten, da allgemein noch heute der schwedische Zeit 
abschnitt in bester Erinnerung ist. 
Die Nachfahren der Ureinwohner vertrugen sich gut 
mit den Baronen bis in die 1860er Jahre. Durch die 
panslawistische Werbetätigkeit, die nach dem Grundsatz: 
Teile und herrsche! die Fremdvölker gegeneinander aus 
zuspielen trachtete, verkehrte sich allmählich das freund 
schaftliche Zusammenleben in Feindschaft. Die Letten 
g hrn dabei gehässiger und anmaßender zu Werk. Den 
Esten merkt man es an, daß sie innerlich eigentlich zu uns 
stehen, daß sie es aber für politische Pflicht halten, uns zu 
bekämpfen. Überhaupt ist es seltsam, daß auch wir uns 
den mongoloiden Esten näher fühlen als den indogerma 
nischen Letten. Der Gefühlsunterschied ist aber allen 
Beobachtern aufgefallen. Es ist ungefähr so, wie uns ein 
Japaner lieber sein mag als ein Tscheche. Esten und 
Estinnen haben etwas Feines, Anmutiges und Heiteres; 
sie singen gerne bei der Arbeit. Sie sind ganz gefällig, sehr 
kunstverständig und, was besonders schätzenswert ist, weitab 
von der Schablone. Ihre Kunst wiederholt sich nicht, sie 
hat gar nichts Industrielles an sich. In dem Volksmuseum 
von Dorpat sind zweitausend hölzerne Trinkkrüge, und keiner 
ist wie der andere. Die Letten dagegen sind widerspenstig 
und plump. Gegen uns sind sie bewußt unfreundlich und 
ungefällig. Auch ihnen kann man künstlerische Fähigkeiten 
nicht ganz absprechen. Ihre Trachten sind zwar nicht 
entfernt so farbig und malerisch wie die estnischen, aber zu 
singen verstehen auch sie. Es ist vielleicht kein Zufall, daß 
die Griechen den Gott der Musik Phöbus Apollon (estnisch 
paive — Tag, Sonne) aus dem Norden herleiteten: der ganze 
Norden ist von Klängen und Harmonien erfüllt. Eines 
haben beide einheimischen Völker gemeinsam: den unlösch 
baren Bildungsdnrst. Es wird sich in Zukunft darum 
handeln, ob w>r oder die Engländer diesen Durst stillen. 
Die Szene des Waffenstillstands. 
(Hierzu die Bilder Seite 368.) 
Ein Mitglied der deutschen Waffenstillstandskommission 
hat einem Mitarbeiterder „Vossischen Zeitung" Einzelheiten 
mitgeteilt, denen wir folgendes entnehmen:
	        
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