Volltext: Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. Erster Band. (Erster Band)

Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914. 
71 
kein so hartherziges Geschöpf wie einenKrümer, dessenHandel 
ins Stocken geraten, dem seine Kunden abtrünnig werden 
und dessen Warenlager keinen Absatz mehr findet." 
Vorläufig hatte sich unser Vetter jenseits des Kanals 
einen seiner gewohnten Treubrüche geleistet und damit 
seinem Beinamen „perfides Albion" alle Ehre gemacht. Es 
war am 4. August, an jenem großen Tage, an dem der Kaiser 
und der Reichskanzler im Reichstage die herrlichen Worte 
(Seite 34 u.45) gesprochen hatten, die alle Deutschen unter 
ein Banner vereinigten. Der Parteihader war verschwunden, 
und alle Deutschen ohne Unterschied erfüllte höchste Kriegs 
begeisterung. Alle, die zu Hause geblieben waren oder 
noch zu Hause bleiben mußten, denn es war ja erst am 
dritten Tag der Mobilmachung, lasen mit Genugtuung in 
den Extrablättern die Reden des Kaisers und des leitenden 
Staatsmannes. Froh belebt waren alle Hoffnungen, die 
Fäuste ballten sich gegen unsere Feinde, und jeder rief 
stolz aus: „Wir müssen siegen und wir werden siegen!" 
Eine solche Einigkeit und einmütige Begeisterung festigte 
in allen Volksgenossen die Überzeugung, daß es unter 
diesen Umständen unmöglich sei, zu unterliegen, auch wenn 
sich halb Europa im Überfall auf uns vereinigte. Überall 
wo Menschen zusammenkamen, bildete die große Reichs 
tagssitzung den einzigen Gesprächsstoff. „Wir'müssen sehen, 
wie wir uns durchhauen", hatte, der Reichskanzler gesagt; 
das war das richtige Wort. Die Soldaten brannten darauf, 
an den Feind zu kommen, die Frauen feuerten die Männer 
zum Kampfe an, die Zurückgebliebenen und Zurückbleibenden 
überboten sich an Opferwilligkeit zur Milderung der 
Schrecken des Krieges. 
Doch was war das? Wieder Uesen die Zeitungs 
verkäufer mit Extrablättern die Straßen entlang. Alles 
stürzte sich darauf. Starr vor Staunen und bald mit 
innerer Wut las man folgendes: 
„Heute, Dienstag nachmittag, kurz nach der Rede des 
Reichskanzlers, in der bereits der durch das Betreten bel 
gischen Gebiets begangene Verstoß gegen das Völkerrecht 
freimütig anerkannt und der Wille des Deutschen Reiches, 
die Folgen wieder gutzumachen, erklärt war, erschien der 
großbritannische Botschafter Sir Edward Goschen im Reichs 
tag, um dem Staatssekretär v. Jagow eine Mitteilung 
seiner Regierung zu machen. In dieser wurde die deutsche 
Regierung um alsbaldige Antwort auf die Frage ersucht, 
ob sie die Versicherung abgeben könne, daß keine Ver 
letzung der belgischen Neutralität stattfinden werde. Der 
Staatssekretär v. Jagow erwiderte sofort, daß dies nicht 
möglich sei, und setzte nochmals die Gründe auseinander, 
die Deutschland zwingen, sich gegen den Einfall einer 
französischen Armee durch Betreten belgischen Bodens zu 
sichern. Kurz nach sieben Uhr erschien der großbritannische 
Botschafter im Auswärtigen Amt, um den Krieg zu er 
klären und seine Pässe zu fordern. Wie wir hören, hat 
die deutsche Regierung die Rücksicht auf die militärischen 
Erfordernisse allen anderen Bedenken vorangestellt, ob 
gleich damit gerechnet werden mußte, daß dadurch für die 
englische Regierung Grund oder Vorwand zur Einmischung 
gegeben sein würde." 
Man kann sich denken, daß diese Nachricht eine un 
geheure Erregung im ganzen deutschen Volke hervorrief. 
Eine Überraschung freilich war sie nicht für jene, welche 
die Zeichen der Zeit zu deuten wußten. Schon einige Tage 
vorher hatte England ebenso wie Frankreich und Rußland 
den Schutz seiner Untertanen Amerika übertragen ; was konnte 
das anders zu bedeuten haben, als die Parteinahme gegen 
uns von seiten Englands. Daß die britische Politik nicht 
für uns eintreten würde, konnten wir auf Grund langer 
Erfahrungen als sicher voraussetzen. In Regierungskreisen 
war man auf den Krieg Englands vorbereitet. Aber die 
deutsche Regierung wollte ihr möglichstes tun, diesen 
äußersten Fall zu verhindern. Deshalb erklärte der Reichs 
kanzler im Reichstage, die ungeschützte Nordküste Frank 
reichs werde nicht angegriffen werden, wenn England 
neutral bleibe. Daß auch diese Zusicherung die Kriegs 
erklärung Englands nicht aufhalten würde, konnte man aus 
der englischen Unterhaussitzung ersehen, die am 3. August 
stattfand und über die die deutsche Tagespresse bereits am 
4. August morgens berichtete. In dieser Unterhaussitzung 
war eigentlich schon die Kriegserklärung Englands aus 
gesprochen worden, so daß die Erklärung am Abend des 
4. August eben nur eine Formalität war. Sir Edward Grey 
sagte in der erwähnten Sitzung des englischen Unterhauses 
vom 3. August, er habe kein Versprechen gegeben, habe 
aber sowohl dem französischen wie dem deutschen Bot 
schafter erklärt, daß, wenn Frankreich ein Krieg auf 
gezwungen würde, die öffentliche Meinung auf Frankreichs 
Seite treten würde. Er habe in den französischen Vor 
schlag, eine Besprechung militärischer und seemännischer 
Sachverständiger Englands und Frankreichs herbeizuführen, 
eingewilligt, da England sonst nicht in der Lage sein 
werde, im Falle einer plötzlich eintretenden Krisis Frank 
reich Beistand zu gewähren, wenn es ihn gewähren wolle. 
Erhübe seine Ermächtigung zu jenen Besprechungen gegeben, 
jedoch unter der ausdrücklichen Voraussetzung, daß keine 
der beiden Regierungen durch das, was zwischen den mili 
tärischen und seemännischen Sachverständigen vor sich gehe, 
gebunden oder in ihrer Entschlußfreiheit beschränkt werde. 
Seine persönliche Ansicht sei folgende: Die französische Flotte 
ist im Mittelmeer, und die Nordküste ist ungeschützt. Wenn 
eine fremde, im Krieg mit Frankreich befindliche Flotte 
komme und die unverteidigte Küste angreife, so könne Eng 
land nicht ruhig zusehen. 
Nach seiner starken Empfindung sei Frankreich berechtigt, 
sofort zu wissen, ob es im Falle eines Angriffs auf seine 
ungeschützte Küste auf englischen Beistand rechnen könne. 
Grey erklärte, daß er am Sonntag abend dem französischen 
Botschafter die Versicherung gegeben habe, daß, wenn die 
deutsche Flotte in den Kanal und in die Nordsee gehe, 
um die französische Schiffahrt oder Küste anzugreifen, die 
britische Flotte jeden in ihrer Macht liegenden Schutz ge 
währen werde. Diese Erklärung bedürfe der Genehmigung 
des Parlaments. Sie sei keine Kriegserklärung. Er habe 
erfahren, daß die deutsche Negierung bereit sein werde, 
wenn England sich zur Neutralität verpflichte, zuzustimmen, 
daß die deutsche Flotte die Nordküste Frankreichs nicht 
angreifen werde. Dies sei eine viel zu schmale Basis für 
Verpflichtungen englischerseits. 
Hierauf verbreitete sich Grey über die Frage der bel 
gischen Neutralität und fuhr dann fort: „Ich fürchte, wir 
werden in diesem Kriege fürchterlich zu leiden haben, 
gleichviel, ob wir teilnehmen oder nicht. Der Außenhandel 
wird aufhören. Am Ende des Krieges werden wir, selbst 
wenn wir nicht teilnehmen, sicherlich nicht in einer mate 
riellen Lage sein, unsere Macht entscheidend dazu zu ge 
brauchen, ungeschehen zu machen, was im Laufe des Krieges 
geschehen ist, d. h. die Vereinigung ganz Westeuropas 
uns gegenüber unter einer einzigen Macht zu verhindern, 
wenn dies das Ergebnis des Krieges sein sollte. Man sollte 
nicht glauben, daß, wenn eine Großmacht in einem solchen 
Kriege sich passiv verhielte, sie am Schlüsse in der Lage sein 
würde, ihre Interessen durchzusetzen. Er sei nicht ganz 
sicher über die Tatsachen betreffs Belgien; aber wenn sie 
sich so erwiesen, wie sie der Regierung augenblicklich mit 
geteilt worden seien, so sei die Verpflichtung für England 
vorhanden, sein Äußerstes zu tun, um die Folgen zu ver 
hindern, die jene Tatsachen herbeiführen würden, wenn 
kein Widerstand stattfinde." Grey schloß: „Wir sind bisher 
keine Verpflichtungen über die Entsendung eines Expedi 
tionskorps außer Landes eingegangen. Wir haben die 
Flotte mobilisiert und sind im Begriff, die Armee zu mobili 
sieren. Wir müssen bereit sein und wir sind bereit. Wenn. 
die Lage sich so entwickelt, wie es wahrscheinlich erscheint, 
so werden wir ihr ins Auge sehen. Ich glaube, daß, wenn 
das Land sich vergegenwärtigt, was auf dem Spiele steht, 
es die Regierung mit Entschlossenheit und Ausdauer unter 
stützen wird." 
In dieser Auseinandersetzung des ehrenwerten Sir 
Edward Grey liest man auch etwas von der „Ehre Eng 
lands", die es erfordere, die Neutralität Belgiens zu 
schützen. Die Verletzung der belgischen Neutralität durch 
Frankreich hätte „die Ehre der englischen Nation" schwer 
lich herausgefordert, wenn aber Deutschland in der Not 
wehr als Überfallener eine solche Handlung begeht, dann 
ist die englische Ehre in Gefahr und man hat einen 
schönen Anlaß, dem gefährlichen Konkurrenten auf dem 
Weltmärkte und in der Weltpolitik eins auszuwischen. 
Freilich verleugnet sich in dieser Verteidigungsrede Ereys 
für die nationale Ehre auch der englische Krämergeist nicht. 
Grey meint, der Krieg schlage England schwere Wunden 
(der Export ruht), einerlei ob England daran teilnehme 
oder nicht. Also war es schon besser, man nimmt daran
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.