Volltext: Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. Erster Band. (Erster Band)

Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914. 
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Armee und Flotte befohlen worden ist. Darauf hat Seine 
Majestät Kaiser Wilhelm den Zustand der drohenden Kriegs 
gefahr befohlen. Seine Majestät wird heute nach Berlin 
übersiedeln." 
Eine weitere amtliche Note, die durch das offiziöse 
Büro ausgegeben wurde, gibt die Meldung in folgender 
Fassung: „Seine Majestät der Kaiser haben auf Grund 
des Artikels 68 der Reichsverfassung das Reichsgebiet ohne 
Bayern in Kriegszustand erklärt. Für Bayern ergeht die 
gleiche Anordnung." 
Die Erklärung des drohenden Kriegszustandes wird man 
begreiflich finden, wenn man den Ukas des Zaren über die 
russische Mobilmachung liest. Dieser Ukas rief unter die 
Fahnen: 
1. die Reservisten von dreiundzwanzig russischen Gou 
vernements und von einundsiebzig Distrikten in vierzehn 
anderen Gouvernements; 
2. einen Teil der Reservisten von neun Distrikten in 
vier Gouvernements; 
3. die Reservisten der Flotte von vierundsechzig Di 
strikten in zwölf russischen Gouvernements und einem finn- 
ländischen Gouvernement; 
4. die beurlaubten Kosaken im Dongebiet, Kuban, Terek, 
Astrachan, Orenburg und Ural; 
6. die entsprechende Anzahl von Reserveoffizieren, 
Ärzten, Pferden und Wagen. 
Dies bedeutete eine Mobilisierung von mehr als zwei 
Dritteln des europäischen Rußlands. 
* * 
* 
Der 1. August 1914 ist nicht nur ein Schicksalstag für 
Deutschland, sondern für ganz Europa. An diesem Tage 
wurde die von uns bereits früher erwähnte Vorgeschichte 
der deutsch-russischen Spannung amtlich veröffentlicht und 
der ganzen Welt gezeigt, mit welcher Heimtücke Rußland 
durch sein Oberhaupt, den Zaren Nikolaus, gegen Deutsch 
land und besonders gegen Kaiser Wilhelm vorgegangen ist. 
Die amtliche Darstellung, die in der „Norddeutschen All 
gemeinen Zeitung" veröffentlicht wurde, lautet folgender 
maßen: 
„Nachdem Seine Majestät der Kaiser den Kriegszustand für das 
Reich erklärt hat, ist der Zeitpunkt gekommen, die Vorgänge, die zu 
diesem Entschluß führten, in Kürze darzulegen. Seit Jahren hat 
Österreich-Ungarn gegen Bestrebungen zu kämpfen, die mit ver 
brecherischen Mitteln unter Duldung und Förderung der serbischen 
Regierung auf die Revolutionierung und Losreißung der südöst 
lichen Landesteile Österreich-Ungarns hinarbeiten. Die Gewinnung 
dieser Gebiete ist ein unverhülltes Ziel der serbischen Politik. Diese 
glaubt dabei auf den Rückhalt Rußlands rechnen zu können, in dem 
Gedanken, daß es Rußlands Aufgabe sei, den südslawischen Völkern 
seinen Schutz zu leihen. Diesem Gedanken wurde durch Rußlands 
Bemühungen, den Bund der Balkanstaaten zustande zu bringen, 
Nahrung gegeben. Die großserbische Propaganda trat schließlich 
in der Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers und 
seiner Gemahlin grell hervor. Die Österreichisch-Ungarische Monarchie 
entschloß sich, diesem gegen ihren Bestand als Großmacht gerichteten 
verbrecherischen Treiben ein Ende zu machen. Es mußte sich dabei 
ergeben, ob Rußland tatsächlich die Rolle des Beschützers der Süd 
slawen bei ihren auf Zertrümmerung des Bestandes der Österreichisch- 
Ungarischen Monarchie gerichteten Bestrebungen durchzuführen 
willens war. In diesem Falle kam ein Lebensinteresse Deutschlands 
in Frage: der ungeschwächte Bestand der uns verbündeten Monarchie, 
dessen wir zur Erhaltung unserer eigenen Großmachtstellung inmitten 
der Gegner von Ost und West bedürfen. Deutschland stellte sich von 
vornherein auf den Standpunkt, daß eine Auseinandersetzung mit 
Serbien eine Angelegenheit sei, die nur Österreich-Ungarn und Ser 
bien angehe. Unter Wahrung dieses Standpunktes haben wir mit 
der größten Hingabe an allen Bemühungen teilgenommen, die 
auf die Erhaltung des europäischen Friedens gerichtet waren. Öster 
reich-Ungarn gab hierzu die Handhabe, indem es den Mächten wieder 
holt erklärte, daß es auf keine Eroberungen ausgehe und den terri 
torialen Bestand Serbiens nicht antasten wolle. Diese Erklärungen 
wurden namentlich in Petersburg mit Nachdruck zur Kenntnis ge 
bracht. Unserem Bundesgenossen haben wir geraten, jedes nnt der 
Würde der Monarchie zu vereinbarende Entgegenkommen zu zeigen. 
Insbesondere haben wir allen englischen, auf die Vermittlung zwilchen 
Wien und Petersburg hinzielenden Schritten hilfreiche Hand ge 
liehen. Bereits am 26. Juli lagen zuverlässige Meldungen über 
russische Rüstungen vor. Sie veranlaßten die deutsche Regierung, 
am gleichen Tage unter erneuter Betonung, .daß Österreich-Ungarn 
den Bestand Serbiens nicht antasten wolle, zu erllären: vorbereitende 
militärische Maßnahmen Rußlands müßten uns zu Gegenmaßregeln 
zwingen, diese müßten in der Mobilisierung der Armee bestehen, 
Mobilisierung aber bedeute Krieg. Wir könnten nicht annehmen, 
daß Rußland einen europäischen Krieg entfesseln wolle. Am nächsten 
Tage erklärte der russische Kriegsminister unserem Militärattache, 
es sei noch keine Mobilmachungsorder ergangen, kein Pferd aus 
gehoben, kein Reservist eingezogen. Es würden lediglich vorbereitende 
Maßregeln getroffen. Wenn Österreich-Ungarn die serbische Grenze 
überschreite, würden die auf Österreich-Ungarn gerichteten Militär 
bezirke mobilisiert, unter keinen Umständen die an der deutschen 
Front liegenden. Jedoch ließen zuverlässige Nachrichten schon in 
den nächsten Tagen keinen Zweifel, daß auch an der deutschen Grenze 
die militärischen Vorbereitungen Rußlands in vollem Gange waren. 
Meldungen hierüber häuften sich; trotzdem wurden noch am 29. Juli 
von dem russischen Eeneralstabschef unserem Militärattache erneut 
beruhigende Erklärungen gegeben, die die Mitteilung des Kriegs 
ministers als noch voll zu Recht bestehend bezeichneten. 
Am 29. Juli ging ein Telegramm des Zaren an den Kaiser ein, 
worin er die inständige Bitte aussprach, der Kaiser möge ihm in 
diesem so ernsten Augenblick helfen. Er bitte ihn, um den: Unglück 
eines europäischen Krieges vorzubeugen, alles ihm Mögliche zu tun, 
um seinen Bundesgenossen davon zurückzuhalten, zu weit zu gehen. 
Am selben Tage erwiderte der Kaiser in einem längeren Telegramm, 
daß er die Aufgabe eines Vermittlers auf den Appell an seine Freund 
schaft und Hilfe bereitwillig übernommen habe. Dementsprechend 
wurde sofort eine diplomatische Aktion in Wien eingeleitet. Während 
diese im Gange war, lief die offizielle Nachricht ein, daß Rußland 
gegen Österreich-Ungarn mobil mache. Hierauf wies der Kaiser 
den Zaren in einem weiteren Telegramm sofort darauf hin, daß durch 
die russische Mobilisierung gegen Österreich-Ungarn seine auf Bitten 
des Zaren übernommene Vermittlerrolle gefährdet, wenn nicht un 
möglich gemacht würde. Trotzdem ließ der Kaiser die in Wien einge 
leitete Aktion fortsetzen, wobei die von England gemachten, in ähn- 
licher Richtung sich bewegenden Vorschläge von der deutschen Regierung 
warm unterstützt wurden. Uber diese Vermittlungsvorschläge sollte 
heute in Wien die Entscheidung fallen. Noch bevor sie fiel, lief bei 
der deutschen Regierung die offizielle Nachricht ein, daß der Mobil 
machungsbefehl für die gesamte russische Armee und Flotte ergangen 
sei. Darauf richtete der Kaiser ein letztes Telegramm an den Zaren, 
in dem er hervorhob, daß die Verantwortung für die Sicherheit 
des Reiches ihn zu definitiven Maßregeln zwinge. Er sei mit seinen 
Bemühungen um die Erhaltung des Weltfriedens bis an die äußerste 
Grenze des Möglichen gegangen. Nicht er trage die Verantwortung 
für das Unheil, das jetzt der Welt drohe. Er habe die Freundschaft 
für den Zaren und das russische Volk stets treu gehalten. Der Friede 
Europas könne noch jetzt erhalten werden, wenn Rußland aufhöre, 
Deutschland und Österreich zu bedrohen. Während also die 
deutsche Regierung auf das Ersuchen Rußlands ver 
mittelte, machte Rußland seine gesamten Streitkräfte 
mobil, bedrohte damit die Sicherheit des Deutschen 
Reiches, von dem bis zu dieser Stunde noch keinerlei außer 
gewöhnliche militärische Maßregeln ergriffen waren. So ist nicht 
von Deutschland herbeigerufen, vielmehr wider den durch die Tat 
bewährten Willen Deutschlands der Augenblick gekommen, der die 
Wehrmacht Deutschlands auf den Plan ruft." 
Am Abend vorher war eine große Volksmenge unter 
Absingen vaterländischer Lieder vor die Wohnung des Reichs 
kanzlers gezogen. Der Reichskanzler erschien am Mittel 
fenster des Kongreßsaales, von stürmischen Zurufen be 
grüßt. Als Stille eintrat, hielt der Kanzler die schon auf 
S. 12 wiedergegebene Ansprache. 
Mit begeisterten Hochrufen auf den Kaiser und den 
Kanzler und unter dem Gesänge der Nationalhymne und 
der „Wacht am Rhein" sehte hierauf der Zug seinen Weg 
durch die Wilhelmstraße fort. 
Auch der Kaiser hatte schon am 31. Juli nach Verkündi 
gung der drohenden Kriegsgefahr eine Ansprache vom 
Schloß aus an das Volk gehalten. Patriotische Kund 
gebungen im Lustgarten währten den ganzen Tag, und nach 
mittags nach sechs Uhr erschienen der Kaiser, die Kaiserin 
und Prinz Adalbert an dem Fenster des Rittersaales und 
wurden stürmisch begrüßt. Der Kaiser richtete, von tosenden 
Zustimmungsrufen übertönt, an die Versammelten die 
auf S. 12 mitgeteilten, packenden Worte. 
Am 1. August nachmittags veröffentlichte der „Reichs 
anzeiger" in einer Sonderausgabe folgenden Kaiserlichen 
Erlaß: 
„Ich bestimme hiermit: 
Das deutsche Heer und die Kaiserliche Marine sind 
nach Maßgabe des Mobilmachungsplans für das 
deutsche Heer und die Kaiserliche Marine kriegsbereit 
aufzustellen. 
Der 2. August 1914 wird als erster Mobilmachungs 
tag festgesetzt. 
Berlin, den 1. August 1914. 
Wilhelm I. R. 
v. Bethmann Hollweg."
	        
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