Volltext: Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. Erster Band. (Erster Band)

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Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914. 
Widerstand zu leiten. Aberall werden zum Schutz der Un 
abhängigkeit Frankreichs Länder sich erheben, um diesem 
furchtbaren Kampfe seine ganze Kraft und seine Wirksam 
keit zu verleihen. 
Es ist unumgänglich notwendig, daß die Regierung freie 
Hand zum Handeln behält. Auf Wunsch der Militärbehörden 
verlegt die Regierung daher für den Augenblick ihren Auf 
enthalt nach einem Punkte Frankreichs, wo sie in ununter 
brochener Verbindung mit der Gesamtheit des Landes 
bleiben kann. Sie fordert die Mitglieder des Parlaments 
auf, sich nicht fern von ihr zu halten, um gegenüber dem 
Feinde zusammen mit der Regierung und ihren Kollegen 
einen Sammelpunkt der nationalen Einheit zu bilden. Die 
Regierung verläßt Paris erst, nachdem sie die Verteidigung 
der Stadt und des befestigten Lagers durch alle in ihrer 
Macht stehenden Mittel sichergestellt hat. Sie weiß, daß 
sie es nicht nötig hat, der bewunderungswürdigen Pariser 
Bevölkerung Ruhe, Entschlußkraft und Kaltblütigkeit zu 
empfehlen. Die Bevölkerung von Paris zeigt jeden Tag, 
daß sie den größten Pflichten gewachsen ist. 
Franzosen! Zeigen wir uns dieser tragischen Umstände 
würdig! Wir werden den endlichen Sieg erringen. Wir 
werden ihn erringen durch den unermüdlichen Willen zum 
Widerstande und zur Beharrlichkeit. Eine Nation, die nicht 
untergehen will, die, um zu leben, weder vor Leiden noch 
vor Opfern zurückschreckt, ist sicher, 511 siegen!" 
Der Aufruf war vom Präsidenten Poincare sowie sämt 
lichen Ministern unterzeichnet und wurde erst sechs Stunden, 
nachdem die Regierung Paris verlassen hatte, veröffentlicht. 
Sonst wäre es ihr nicht möglich gewesen zu entkommen, 
denn sofort nach Bekanntwerden des Aufrufs strömten 
Hunderttausende von empörten Menschen nach dem Elysee 
und der Place de la Concorde und eröffneten ein Stein 
bombardement gegen die Regierungsgebäude, ohne daß die 
aufgebotene Polizei nennenswerte Anstrengungen machte, 
die Menschenmenge abzudrängen. Die beiden Vortore des 
Elysee wurden zertrümmert, nur wenige seiner Fensterscheiben 
sind ganz geblieben. Bis nach Mitternacht dauerten die 
Kundgebungen des Volkes gegen die Regierung, als plötz 
lich der „Mattn" durch Anschläge an den Tafeln bekannt gab, 
daß die Regierung Paris bereits verlassen und ihren Sitz 
nach Bordeaux verlegt habe. Die Nachricht erregte geradezu 
Entsetzen, unb die Revolution wäre vielleicht schon in jener 
Nacht gekommen, hätte die Poüzei nicht zu einem Radikal 
mittel gegriffen: sie ließ sämtliche elektrische Lampen der 
inneren Stadt auf eine Stunde löschen, Paris lag in 
Nacht. Aber die Wut des Volkes, das sich schmählich seinem 
Schicksal überlassen sah, war unaussprechlich. — 
Auf deutscher Seite folgte eine neue Siegesbotschaft:' 
„Reims ist ohne Kampf beseht. Die Siegesbeute der 
Armeen wird nur langsam bekannt. Die Truppen können 
sich bei ihrem schnellen Vormarsch wenig darum bekümmern. 
Noch stehen Geschütze und Fahrzeuge im freien Felde ver 
lassen. Die Etappentruppen müssen sie nach und nach 
sammeln. Bis jetzt hat nur die Armee des Generalobersten 
v. Bülow genauere Angaben gemacht. Bis Ende August 
hat sie 6 Fahnen, 233 schwere Geschütze, 116 Feldgeschütze, 
79 Maschinengewehre, 166 Fahrzeuge erbeutet und 12 934 
Gefangene gemacht. 
Der Eeneralquartiermeister v. Stein." 
Aber den gegen die Stadt mit Erfolg unternommenen 
Handstreich brachten wir schon einen Bericht auf Seite 182. 
Wie amtlich mitgeteilt worden ist, haben unsere deutschen 
Truppen bei der Einnahine von Reims auch das Militür- 
flugzeugdepot beseht: 10 Eindecker, 20 Doppeldecker und 
eine Anzahl der auch in Deutschland bekannten Enome- 
motoren fiel in die Hände der Eroberer. Besonders die 
Motoren, die tu den Gnomewerken hergestellt werden, sind 
gut verwendbar. Auch die 20 erbeuteten Doppeldecker, 
die meist nach dem Typ Maurice Farman gebaut sind, 
sind recht brauchbar. Die Steuerung und Bedienung der 
Flugzeuge unterscheidet sich von der deutscher Militär- 
maschinen nicht so sehr, daß unsere Offiziere die Apparate 
nicht ohne weiteres steuern könnten. Der Verlust der 
30 Flugzeuge und der Reservemotoren wäre für die Fran 
zosen wohl noch zu verschmerzen, wenn nicht die Einnahme 
von Reims für ihre Heeresluftfahrt einen viel schwereren 
Schaden bedeutete. Reims ist gewissermaßen der Mittel 
punkt des Militärflugwesens in Frankreich gewesen, und 
von dort aus wurden alle Operationen der Luftflotte vor 
bereitet und geleitet. In Reims, das einen großen, aus 
gezeichnet unterhaltenen und mit allen Hilfsmitteln ver 
sehenen Militärflugplatz mit einer Offizierfliegerschule be 
saß, war in Friedenszeiten eine Kompanie Flieger unter 
gebracht. Neuerdings aber hatte man Reims zum Mittel 
punkt der Fliegerei gemacht und nicht weniger als drei 
Fliegerkompanien mit allem Zubehör dorthin verlegt. Der 
in unsere Hände gefallene Flugzeugpark war auf Krieg 
stärke gebracht und dürfte einen Wert von 1 Million Mark 
erreichen. 
Reims, das so leicht und so frühzeitig in unsere Hände 
gefallen war, weckt reiche geschichtliche Erinnerungen. 
Das alte Durocortorum, wie es zur Römerzeit hieß, war 
die Hauptstadt der römischen Provinz Belgica secunda. 
Als um 360 das Christentum Eingang fand, wurden hier 
vom heiligen Remigius viele fränkische Große getauft. Der 
Vertrag von Verdun 843 war für die weitere Entwicklung 
entscheidend. Reims kam an Karl den Kahlen, also zu West 
franken. Nachdem die Stadt seit Ludwig IV. Erzbischöfen 
verliehen gewesen war, wurden deren Rechte unter Philipp 
August noch bedeutend erweiterte Sie erhielten den herzog 
lichen Titel und wurden Herren über Stadt und Grafschaft. 
Seitdem war Reims Krönungsstadt der französischen Könige. 
Heiß umstritten war die Stadt in den französisch-eng 
lischen Kriegen des fünfzehnten Jahrhunderts. 1421 wurde 
es von den Engländern erobert, 1429 aber unter der Führung 
der Jungfrau von Orleans für die Franzosen zurückgewonnen. 
In einem russisch-französischen Gefecht 1814, das eben 
falls bei Reims stattfand, blieben die Franzosen Sieger. 
1870 besetzten die Deutschen die Stadt, die als Eisen 
bahnknotenpunkt große strategische Bedeutung hat, ganz 
wie in unserem gegenwärtigen Kriege. Reims wurde da- 
inals Sitz des. Generalgouvernements, zu dem sämtliche von 
uns besetzten Gebiete außerhalb Elsaß-Lothringens gehörten; 
denn dieses galt als ein Generalgouvernement für sich. 
Uns Deutschen ist der Name Reims besonders vertraut 
durch Schillers „Jungfrau von Orleans". 
Reims ist seit 1872 durch eine Anlage von zwölf Forts 
eine Lagerfestung geworden. Aber die Befestigung hat 
nun doch nichts geholfen. Die Stadt wurde preisgegeben, 
ein Zeichen dafür, wie stark die Wucht unserer Angriffe in 
den vorhergehenden Schlachten gewesen ist. 
Im übrigen gehört Reims (siehe auch Seite 182) zu 
jenen reizvollen Städten, die Zeugen einer großen geschicht 
lichen Vergangenheit sind. Groß ist die Zahl nlter Bau 
werke und Kunstschätze. Am berühmtesten ist die gotische 
Kathedrale, ein Meisterwerk geschlossenster Frühgotik. — 
Während die Kriegsereignisse das deutsche Volk und 
seine österreichisch-ungarischen Waffenbrüder immer froher 
stimmten, war es natürlich, daß in Frankreich die Ent 
mutigung immer mehr Platz griff. Der Ruf „ck Berlin" 
war längst verstummt und ebenso das Eespötte über die 
Deutschen. Die Pariser wurden besonders durch das 
häufige Erscheinen deutscher Flieger über der Hauptstadt 
beunruhigt, die Bombengrüße herabsandten (siehe auch 
Seite 78 und 81). Obgleich die Berichte nur von ge 
ringem durch die Flugzeuge angerichteten Schaden er 
zählten, konnte nicht verhindert werden, daß das Volk immer 
erbitterter wurde und fragte, wo denn die französischen 
Flieger blieben, die ja in Friedenszeiten auf den Flug 
plätzen so viele Künste vorzuführen wußten und jetzt im 
Kriege, in dem sie gebraucht wurden, fast vollständig zu 
versagen schienen. Die Verfolgung der deutschen Flieger 
durch französische führte nie zu einem befriedigenden Er 
gebnis. ^ Bezeichnend für die Stimmung des französischen 
Volkes ist der Brief eines französischen Soldaten, den der 
„Matin", der sonst nicht genug gegen die Deutschen hetzen 
kann, veröffentlichte. Dieser Brief lautet: 
„Uns Soldaten wird Zuversicht für die Zukunft ein 
geflößt, aber es gibt zwei Umstünde, die uns mißfallen. 
Als unser Bataillon auf Eilmärschen unter Strapazen durch 
die Ortschaften kam, zeigten die Leute immer ernste Ge 
sichter, traurige Blicke, finstere Stirnen und führten 
Taschentücher an die Augen. ,Es geht doch kein Leichenzug 
vorbei!^ sagten dazu wir Soldaten. Mit Stolz und Freude 
hätten wir in den Krieg ziehen können, mit einem Lächeln 
selbst im Tode. Aber dieses Lächeln wollen wir auch bei 
anderen sehen. Werweint, soll drinnen bleiben. Die Truppen 
brauchen freudige und zuversichtliche Begrüßung beim 
Durchzug. Zweitens bedrückt uns der Anblick der schmäch-
	        
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