Volltext: Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. Erster Band. (Erster Band)

Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914. 
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später von einer Reihe hervorragender Gelehrter beschrieben 
und beobachtet. 
Treten aber derartige Nervenkrankheiten im Frieden ver 
hältnismäßig nur vereinzelt auf, so kommen sie im Kriege in 
großer Zahl vor, fast epidemieartig. Der bekannte Wiener 
Nervenarzt Professor Marburg hat in einem kürzlich gehaltenen 
Vortrag über die verschiedenen Formen der Kriegsneurose 
gesprochen. Er unterscheidet zwei Hauptarten der Kriegs 
neurose: Fälle, die überwiegend körperliche Krankheits 
erscheinungen zeigen und den im Frieden vorkommenden 
traumatischen Neurosen am nächsten stehen, und Fälle, 
die mit schweren psychischen Defekten einhergehen und 
sich daher unmittelbar an die Eeisteskrankheiten anschließen. 
In der Klinik des Hofrats Professor v. Eiselsberg wurde 
einem großen Arzteauditorium eine Reihe von Fällen 
vorgeführt. Da sah man zunächst einen jungen Kadetten, 
dem in der Schlacht bei Komarow der Mantel durch eine 
Granate zerrissen worden war. Er war kurze Zeit bewußtlos. 
Als er das Bewußtsein wieder erlangt hatte, konnte er nicht 
mehr gehen. Er muß bis heute ständig im Bette liegen 
und zeigt auf der einen Körperhälfte eine hochgradige 
Schmerzempfindlichkeit. Ein zweiter Fall betrifft einen 
Infanteristen, dem während der Schlacht bei Rawaruska 
ein Stück Erde, durch einen Schrapnellschuß aufgesprengt, 
auf den Magen fiel, bekanntlich eine sehr empfindliche 
Stelle, weil hier in der Tiefe komplizierte Nervengeflechte 
liegen. Seit dieser Zeit zeigt der Genannte im Bereiche 
der einen Körperhälfte die Erscheinungen der Schmerz- 
überempfindlichkeit, auf der anderen Seite die der Schmerz 
unterempfindlichkeit. Viel unangenehmer für ihn ist 
aber das gleichzeitige Unvermögen zu schlingen und zu essen. 
Nur mit Mühe gelingt es, den Kranken zu ernähren. Ein 
dritter Fall betrifft einen Arzt, der eben im Begriffe war, 
einem frisch Verwundeten den ersten Verband anzulegen. 
Da kam eine Schrapnellkugel und tötete den Mann. Der 
Arzt fiel in Ohnmacht, blieb aber körperlich unverletzt. Als 
er erwachte, zeigte er eine halbseitige Körperlähmung, die 
noch bis heute besteht. Noch schwerere Folgen hatte eine 
Schrapnellschußerplosion in einem weiteren Falle. Der Be 
treffende blieb körperlich vollkommen unverletzt, er fiel nur 
zu Boden, war eine Zeitlang bewußtlos und gibt an, seit 
dieser Zeit vollkommen blind zu sein. Die objektive Unter 
suchung beider Augen ergab deren völlige Unversehrtheit. 
In allen diesen Fällen bestand schon seit der Kindheit eine 
ererbte schwere nervöse Belastung. Die Verletzung hat 
die in der Tiefe ruhende Krankheitsanlage ausgelöst. Die 
selben Krankheitserscheinungen finden sich bei der so 
genannten Hysterie, einer Krankheit, die vorwiegend 
Frauen, seltener Männer betrifft. Es zeigen sich dieselben 
Krankheitszeichen: halbseitige Bewegungsstörungen, halb 
seitige Störungen in der Empfindung, Schlingbe 
schwerden, Unmöglichkeit zu gehen und zu stehen, seelische 
Blindheit, Neigung zum Weinen, fortwährende Äußerungen 
über allerlei Krankheitsgefühle ohne nachweisbare Grund 
lage. 
Professor Strümpell in Leipzig, eine der ersten Fach 
autoritäten auf dem Gebiete der Nervenheilkunde, ver 
tritt die Ansicht, daß die Mehrzahl der nach Verletzungen 
auftretenden Neurosen auf den stürmisch ausgelösten Be 
gehrungstrieb zurückzuführen sind. Diese Begehrung be 
trifft die Erlangung einer festen Rente, wie sie durch die 
Unfallversicherungsgesetzgebung vorgesehen ist. Diese Be 
gehrungstheorie Strümpells trifft auf die Kriegsneurosen 
nicht zu. 
Wie schon oben erwähnt, besteht eine zweite Gruppe 
der durch den Krieg hervorgerufenen Nervenleiden aus 
schweren Geistesstörungen. Ein Hauptmann wird nach 
der Schlacht plötzlich tobsüchtig und erschießt den Arzt, 
der von den Sanitätssoldaten herbeigerufen wird, ihn zu 
beruhigen, ein tatsächlich auf dem russischen Kriegschau 
platz jüngst vorgekommener Fall. Im Krankeuhaus liegt 
ein junger Infanterist in seinem Bette, wohl sind seine 
Augen geöffnet, doch sonst macht er den Eindruck eines 
Bewußtlosen. Sein trüber, starrer Blick schweift in die 
Weite, keine Faser zuckt am ganzen Körper. Die Lippen 
sind unbeweglich, kein Laut kommt aus dem Munde. Er 
ist jedem Anruf unzugänglich, nur widerwillig öffnet er 
den Mund, um sich flüssige Nahrung zuführen zu lassen. 
Es ist ein Fall schwerer Geistesstörung, kurzweg Kriegs 
psychose genannt, an zahlreichen Fällen von dem russischen 
Forscher Schimekoff aus dem russisch-japanischen Kriege 
beschrieben. 
Bei den ersterwähnten Fällen ist die Aussicht auf eine 
Heilung eine ziemlich günstige, während die letztgenannten 
Kriegspsychosen sehr schwer beeinflußbar sind und nur 
j wenig Aussicht auf baldige Besserung bieten. 
Von den Belgiern zerstörte Mnasbrücke bei Lüttich. 
Phot. A. Grohs, Berlin.
	        
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