Volltext: Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. Erster Band. (Erster Band)

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Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914. 
wehrfeuer von der gegenüberliegenden Seite wenig zu 
kümmern, obwohl es ihnen ziemliche Verluste gebracht 
haben mutz. Sie hielten die belgischen Tirailleurs mit 
Mitrailleusenfeuer (Maschinengewehrfeuer) in Schach. All 
mählich füllte sich der ganze Hügelabhang mit deutschen 
Truppen. Die belgischen Schützen zogen sich langsam zurück. 
Um fünf Uhr war schon eine große deutsche Kavalleriemacht 
am linken Ufer. 
Aus den befestigten Stellungen auf den Berghöhen hatten 
die belgischen Truppen schon längere Zeit versucht, die an 
der gegenüberliegenden Seite anrückende Kavalleriekolonne 
durch Eranatfeuer zu verwirren, aber es gelang ihnen nicht, 
und die Besatzung dieser Stellungen mutzte sich zurückziehen. 
Vor den anrückenden Deutschen flüchtete das Volk aus 
den ersten Häusern an der Landstraße voll Entsetzen. Im 
Dorfe aber waren die Bewohner guten Muts geblieben und 
glotzten erstaunt das Vorüberziehen des fremden Kriegs 
volkes an. Es wurde ihnen nicht das geringste zuleide ge 
tan. — Der deutsche Aufmarsch wurde in der Richtung nach 
Lüttich fortgesetzt, und zwar auf beiden Maasufern." 
Der Korrespondent schließt seinen Bericht mit den 
Worten: „Die Deutschen scheinen sich der Tatsache, daß sie 
vor Lüttich nicht bloß mit der Besatzung dieser Festung und 
mit der belgischen Feldarmee, sondern auch mit einem fran 
zösischen Hilfskorps, bald vielleicht auch mit einer englischen 
Landungsdivision zutun habenwerden, nicht bewußt zu sein." 
Eine sehr anschauliche Schilderung der Vorgänge um 
Lüttich aus der Nähe des deutschen Feldlagers am rechten 
Maasufer gibt der Kriegskorrespondent desselben Blattes: 
„Eben bin ich zurückgekehrt von dem kleinen Dorf Mesch, 
wo ich eines der imposantesten Schauspiele meines ganzen 
Lebens gesehen habe. Von hier aus hat man einen voll 
ständigen Blick auf das deutsche Feldlager, das in einer- 
geradezu lieblichen Landschaft gelegen ist: eine nach der 
Maas zu abfallende, reich angebaute Ebene, von bewaldeten 
Hügeln umgeben, und auf dieser Ebene eine bunte An 
häufung einer ungeheuren Anzahl von Pferden, Wagen, 
Mannschaften. Es sind Truppen, die gegen Lüttich und die 
anderen belgischen Festungen aufmarschieren. Man könnte 
glauben, einem Manöver in großartigem Maßstabe bei 
zuwohnen, wenn nicht jeden Augenblick hinter einer ent 
fernten Hügelreihe Eewehrfeuer knattern würde, wenn man 
nicht wüßte, daß Krieg ist, und wenn man nicht den Ernst 
auf den Gesichtern der Männer sähe. Denn wir sind ganz 
nahe den deutschen Truppen, wir reden mit ihnen. 
Von den östlichen Abhängen rücken immer neue Truppen 
heran; immer mehr Reiter erscheinen auf den Hügelkämmen; 
Maschinengewehre werden herangefahren über ein Terrain, 
das eben noch ein üppiges Rübenfeld war. Die heran 
rückende Kavallerie bahnt sich einen Weg quer durch Korn 
felder, deren Halme umsonst gewachsen sind. Ein ziemlich 
großer Weideplatz, mit Stacheldraht umgeben, wird im 
Nu von dieser Umzäunung befreit; für die mit Arten und 
Scheren bewaffneten Soldaten ist dies das Werk eines 
Augenblicks. Es sind vornehmlich Lanzenreiter und Ulanen, 
alle haben die Helme bedeckt mit Überzügen. Zahllose 
Trainwagen kommen rüttelnd den Weg herunter: sie sind 
meist mit sechs Pferden bespannt. In großer Ordnung und 
ohne viele Kommandos findet alles — Wagen, Geschütze 
und Tausende von Menschen und Pferden — seinen Platz. 
Unter den jüngeren Offizieren — wie jung sehen sie aus! — 
fallen mir etliche auf durch ihre sympathischen Gesichter, 
mager und energisch. Ein junger Offizier nähert sich der 
dichten Reihe der Zuschauer, die aus Maastricht heraus 
gekommen sind, und bittet um eine Zeitung. Jemand reicht 
ihm eine holländische Zeitung. Inzwischen fahren immer 
neue schwere Geschütze und Haubitzen durch die üppigen 
Felder heran. Eben wird eine Regimentsfahne in einem 
Lederfutteral vorbeigetragen; sie trägt die Jahreszahl 
1870/71. Hinter den Autos eine neue Truppe, es ist In 
fanterie; bis aufs äußerste sorgsam gepflegt, wie überhaupt 
alles, was wir hier sehen. Aber was erblicke ich dort? Etwa 
fünfzehn Bürger, Bauern und Dorfhandwerker, die Hände 
auf den Rücken gebunden und den Kopf gesenkt. Es sind 
Kriegsgefangene aus irgend einem belgischen Dorfe, dessen 
Bewohner wahrscheinlich gegen die Deutschen Widerstand 
geleistet haben. 
Aber dem Hügelrücken, über den die Deutschen noch 
immer in endlosem Zuge heranrücken, steigt gegen den 
blauen Sommerhimmel eine dunkle Regenwolke auf, und 
auf einmal zeigt sich gegen den noch klaren Teil des Himmels 
ein schwarzes Flugzeug. Wie ein unheilbringender, finsterer 
Raubvogel schwebt es sehr hoch und sehr langsam über den 
Truppen; ist es ein Deutscher oder ein Belgier, der Bomben 
herunterwerfen wird? Aus den Reihen der Zuschauer 
laufen viele weg. Aber die Deutschen arbeiten ruhig weiter. 
Sie haben unterdessen vor unseren Augen an aufgepflanzten 
Lanzenschäften ein Feldtelephon angelegt. Das interessante 
Schauspiel fesselt mich dermaßen, daß ich nicht bemerke, 
wie viele Zuschauer neben mir plötzlich zurückweichen. Ganz 
nahe höre ich ein Kommando, und zugleich höre ich von 
geladenen Pistolen reden. Rasch springe ich zurück bis 
an den Grenzstein, an dem mein Fahrrad angelehnt steht. 
Ein deutscher Offizier richtet die Pistole auf mich und ruft 
mir zu: ,Kommen Sie einen Moment herüber!* Ich gehe 
hin, er nimmt mir mein Notizbuch aus der Hand und sagt, 
wir hätten die Grenze überschritten. Er studiert mein 
holländisches Gekritzel und fragt nach dem Inhalt. Als 
dann ein zweiter Offizier dazukommt, derselbe, der vorhin 
die Zeitung erbeten hatte, erhalte ich mein Notizbuch zurück 
mit der Bitte, auf holländischer Seite bleiben zu wollen." 
Aus anderen holländischen Berichten sei noch hervor 
gehoben, daß es heißt: Die Deutschen, die in den kleinen 
belgischen Dörfern übernachten, lassen die Einwohner in 
Frieden und bezahlen ihre Zeche. 
Aber die Eroberung der Forts von Lüttich gibt der nach 
stehende Feldpostbrief vom 9. August interessante Einzelheiten: 
„Wir sind seit gestern mittag hier. Quartier haben wir 
im Bahnhofsgebäude, allerdings sehr primitiv. Die ver 
gangene Woche war furchtbar anstrengend. Ruhe haben 
wir überhaupt nicht gehabt, da wir von allen Seiten, sogar 
vom Zivil, angegriffen worden sind. In den acht Tagen 
habe ich höchstens zwanzig Stunden geschlafen; wir waren 
Tag und Nacht auf den Beinen. Am tollsten war es in 
der Nacht vom 6. zum 6., wo wir zwei feindliche Forts 
genommen haben. Die Jäger immer voran. Wir haben 
große Verluste gehabt. Am Freitag haben wir ein anderes 
Fort stürmen wollen, es war aber zu stark besetzt. Die 
Belgier haben die neuesten und stärksten Festungen. Die 
Panzertürme werden aus der Erde gehoben, die Kanonen 
abgefeuert und im nächsten Moment verschwindet der Turm 
wieder. Wir hatten einen sehr schweren Stand, lagen über 
drei Stunden im tollsten Feuer. Trotzdem waren wir bis 
auf dreihundert Meter herangekommen. Ein Sturm war 
nach Lage der Dinge unmöglich, wir gaben daher die 
weitere Beschießung auf, da wir sonst vollständig aufgerieben 
worden wären. Immerhin war es eine tollkühne Sache, 
gegen eine solche llbermacht vorzugehen. Wir haben an 
diesem Tage nicht einen Verwundeten gehabt, dem Fort 
dagegen ungeheuren Schaden zugefügt. Unsere Artillerie 
hat tadellos geschossen; die Maschinengewehre nicht minder, 
und wir auch sehr gut, was schon daraus hervorgeht, daß 
uns das Fort nach der Beschießung einen vierundzwanzig- 
stündigen Waffenstillstand angetragen hat. 
In der ganzen Gegend sind wir hauptsächlich auch von 
Zivilpersonen beschossen worden, so daß man bei Patrouillen 
und auf dem Marsch vor keiner Kugel sicher war. Zivilisten, 
welche auf uns geschossen hatten oder mit Waffen in der 
Hand getroffen wurden, wurden einfach niedergeschossen. 
So haben wir an dem einen Tage etwa zweihundert Mann 
standrechtlich erschossen und vielleicht fünfzig Häuser in 
Brand gesteckt, weil wir uns nicht anders helfen konnten, 
da wir von allen Seiten bedroht wurden. Unser Vorgehen 
hat geholfen! Heute nachmittag geht^s wieder weiter, 
wohin unbekannt. Bis heute war uns das Schreiben an 
alle Angehörigen streng untersagt, da unsere Bewegungen 
im Dunkeln bleiben sollten." 
Der bekannte holländische Journalist Pisuisse schildert im 
„Telegraaf" vom 9. August die Zustände in Lüttich während 
der Beschießung durch die Deutschen. Es heißt da u. a.: 
„Während das Publikum den einrückenden belgischen 
Truppen zujubelte, drangen die gewaltigen Explosionen 
und Erschütterungen von der Sprengung der äußersten 
Maasbrücken nach dem Platz vor dem Stadthaus, wo ich 
mich befand, und hoch in der Luft sah man nun auch deut 
lich die deutschen Granaten in ihrem feurigen Lauf zu ihrem 
Zerstörungswerk. Wie ein Komet fährt eine solche höllische 
Bombe auf ihrem feurigen Schweif durch die Luft, und kaum 
habe ich sie in ein großes Haus an der Ecke der Rue de Made 
leine und des Maaskais einschlagen sehen, so bricht bereits
	        
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