Volltext: Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. DritterBand. (DritterBand)

Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. 
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Wandlungen man dem Gehör nach deutlich unterscheiden 
tonnte. Für uns, die wir das Kampfgetöse bisher immer aus 
nächster Nähe gehört hatten, klangen das lang anhaltende 
Rollen und die rasch aufknatternden Feuerüberfälle so sanft, 
als ob mindestens die doppelte oder dreifache Entfernung 
zwischen uns und der Kampffront läge. Wir wähnten uns 
vollkommen sicher. Um so mehr, als sich die feindliche Ar 
tillerie ihre Ziele ganz vorn in unseren Schützengräben ge 
sucht zu haben schien, und uns hier hinten völlig unberück 
sichtigt ließ. Vielleicht deckte uns auch das muldenreiche 
Gelände zu gut gegen ihre Beobachtungsstellen. Man weiß 
ja in der Front nie genau, welchem Zufall man das Glück 
verdankt, einmal mehrere Stunden nicht beschossen zu wer 
den, obwohl nran sich innerhalb der Reichweite von feind 
lichen Geschützen aufhält. 
Ein Fliegeroffizier war auf der staubigen Landstraße 
im Auto vom Stab des Generalkommandos aus vorgefahren 
und verweilte eine halbe Stunde lang bei uns. Nur der 
Unterhaltung wegen war er bei uns ausgestiegen. Er 
wollte die dienstfreien Minuten benützen, um mit alten 
Regimentskameraden Kriegserlebnisse und Kriegserklä 
rungen auszutauschen. Wir ahnten nicht, daß er für uns 
wie gerufen kam, um uns eine wertvolle Jnstruktions- 
stunde über seine neue Waffe und ihre schießtechnischen 
Probleme zu halten. 
Als wir nämlich gerade in.sehr angeregter Unterhaltung 
über unsere persönlichen Erleb 
nisse waren, hörten wir immer 
deutlicher das Summen eines 
Fliegers. Das war für uns 
zwar etwas Alltägliches. Doch 
als der Posten vor Gewehr mel 
dete: „Feindlicher Flieger kommt 
direkt auf uns zu," sprangen wir 
auf und überzeugten uns von 
der Richtigkeit der Meldung. 
Mühelos waren an den beiden 
Tragflächen die französischen Ab 
zeichen durch den Feldstecher zu 
erkennen. Es war ein Breguet- 
Doppeldecker (siehe die neben 
stehende Skizze). In wenigen 
Minuten mußte er den Platz 
unserer Kompanie erreicht haben. 
Es galt also, sich schleunigst zu 
verkriechen. „Ganze Kompanie 
in die Büsche marsch marsch!" 
Wie ein aufgestörter Ameisen 
haufen wimmelten die lagernden 
Musketiere durcheinander. Dann 
war die ganze Wiese leer. In der langen Schlehdornhecke 
und in den einzeln stehenden Büschen aus Besenginster 
krabbelte es dagegen überall. Die Kompanie befand sich 
somit in einer neuzeitlichen, geöffneten Formation, die 
unser Exerzierreglement aus Friedenszeiten noch nicht 
kennt, in der sogenannten „Fliegerdeckung". Der Flieger 
hielt immer noch gerade auf uns zu, obwohl er uns nicht 
gesehen haben konnte. Auch konnte das schadenfrohe 
Kichern aus der Hecke, wenn sich ein Feldgrauer recht kräftig 
in die Dornen setzte, oder das Schimpfen, wenn ein ge 
nagelter Kommißstiefel auf eine Scholle trat, die schon 
durch die Gliedmaßen eines Kameraden beseht war, nicht 
zum Verräter werden bei dem Knattern des Flugzeug 
motors. 
Dessenungeachtet war es uns ein beklemmendes Gefühl, 
als das Flugzeug plötzlich seinen Kurs änderte und fast 
senkrecht über uns seine Kreise zog. Wir saßen alle wortlos 
und blinzelten durch die Blätter hinauf zum tiefblauen 
Himmel und dem silberglänzenden Flugzeug, das in der 
Sonne einen prachtvollen Anblick bot. Uns alle beschäftigte 
nur der Gedanke: was will der Flieger hier? Daß ihn 
irgend etwas an dieses Stück Erde fesselte, ging aus seinem 
Gebaren deutlich hervor. 
„Ob er uns wohl bemerkt hat, weil er immer über uns 
fliegt?" wandte ich mich an den Fliegerleutnant. — „Aus 
geschlossen," sagte dieser. „Er photographiert," setzte er hinzu, 
während der Flieger in steilem Gleitflug fast einen Kopf 
stand in der Luft machte und der Apparat nach einigen Se 
kunden wieder aufstieg. „Er muß das machen, um mög 
lichst .senkrecht von oben herunter auf die Erde zu photo 
graphieren," wurden wir belehrt, „dann läßt sich nämlich 
das Bild am besten in die Karten einpassen. Die Perspek 
tive ist dann am wenigsten verschoben, die Straßen 
schlängeln sich weiß durch das dunkle, bewachsene Gelände, 
die Bäume an den beiden Seiten sind wie schwarze Punkte 
rechts und links, Schützengräben und Batteriestellungen 
heben sich hell ab, weil meist der Anbau noch zu jung ist. 
Auch war man im Anfang fast nie so vorsichtig, die zu mas 
kierenden Stellungen nicht nur genau mit derselben Pflan 
zenart wie das Umgelände, sondern das Gras, das Busch 
werk oder die Rüben auch in genau derselben Dichte und 
Größe zu pflanzen." — „Hier gibt es aber doch nichts zu 
photographieren," wandte ich ein. — „Er steht auch gar nicht 
über uns, das täuscht nur bei den fast 2000 Metern, die 
er hoch ist. Er photographiert offenbar unsere zweite Stel 
lung gleich dort hinter dem nächsten Hügel." Ich beneidete 
den Kameraden, dem es vergönnt war, sich infolge seiner 
Fliegertätigkeit und seiner Zusammenarbeit mit den Stäben 
eine eingehendere Kenntnis unserer Stellungen, überhaupt 
der ganzen Lage in unserem Kampfabschnitt zu erwerben 
als ein Kompanieführer, der im Vergleich dazu nur einen 
engen taktischen Gesichtskreis hat. 
Das Flugzeug änderte wieder seine Fahrt. Es flog die 
Straße entlang, wendete und flog die Straße wieder zurück. 
„Sie haben mein Auto gesehen!" rief unser Flieger, dem 
die Rückkehr sofort aufgefallen war. Blitzschnell sah ich 
auch den Chauffeur und den 
Begleitmann vom Führersitz hin 
unter in den Straßengraben 
springen. Das Auto selbst war 
anscheinend durch die Baum 
kronen doch nicht ganz verdeckt 
worden. Ein dunkler Gegen 
stand fiel vom Flugzeug, und 
während man sich noch überlegte, 
ob es keine Augentäuschung ge 
wesen war, fährt drüben in der 
Wiese eine Erdfontäne empor. 
Es mag nach 25 Sekunden ge 
wesen sein. Gleich darauf hören 
wir auch das Krachen des Ein 
schlages. „Die meinen, im Auto 
säße ein höherer Stab, deshalb 
versuchen sie einen Zufallstreffer 
zu erreichen." — „Wieso Zufalls 
treffer? Haben sie keine Ziel 
apparate?" fragte ich. — „Erfun 
den wurden schon eine ganze 
Menge, aber es taugt keiner 
etwas, denn man muß neben 
der Abgangsrichtung auch noch die eigene Fluggeschwindig 
keit, die relative Höhe über dem Ziel und die Windverhält 
nisse berücksichtigen. Deshalb geht es fast immer 100 Meter 
daneben." — „Ist das Bombenwerfen so schwer?" — „Der 
Führer muß eben genau über das Ziel fliegen, also wie 
hier die Straße entlang. Glaubt man dann das Ziel gerade 
überflogen zu haben, so stößt man die Bombe ab. Wenn man 
in den vierten Stock eines Hauses geht, so ist man ungefähr 
2000 Zentimeter über der Straße. Wirft man dann mit 
kleinen Steinchen nach einer Postkarte hinunter, bte ja 
ungefähr 15 Zentimer lang ist, so hat man etwa das gleiche 
Verhältnis wie bei einem Fluge in 2000 Meter Höhe. Nur 
ist ein feldmäßiges Ziel von 15 Meter Länge natürlich viel 
günstiger als ein einzelnes Auto, und der vierte Stock hat 
keine Eigengeschwindigkeit!" 
Grollend verzog sich bald darauf auch der feindliche Flieger, 
nachdem er die Nutzlosigkeit seiner Bemühungen anscheinend 
eingesehen hatte. Ja, wenn er unsere Kompanie noch auf dem 
Lagerplatz erwischt hätte! 200 Meter Frontbreite und 225 Me 
ter Tiefe eines Biwakplatzes wären ein besseres Ziel gewesen! 
Nach kräftigem Händeschütteln und herzlichem „Auf Wie 
dersehen!" verließ uns unser Flieger ebenfalls. Wir plauderten 
noch geraume Zeit über den interessanten Gesprächstoff 
und waren froh, wieder einmal etwas gelernt zu hasten. 
Allerlei Kurzweil im Schützengraben. 
Im Westen, Anfang September 1915. 
Kürzlich schickte ich einen Siegelring nach Hause, den 
ich im Schützengraben im Walde von A für vier
	        
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