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Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/18.
Er hörte kaum mehr auf ihr Geschwätz. Die Mutter ge
fangen, noch heute, am letzten Tag — welche grausame Fü
gung des Schicksals! Aber vielleicht konnte er sie noch retten,
sie noch erreichen, vielleicht, vielleicht, wenn die Deutschen
rechtzeitig kamen, wenn die Stadt sich ohne Kampf ergab.
Aber er wußte auch, was es bedeutete, den russischen Sol
daten ausgeliefert zu sein, wenn sie keine Autorität mehr
über sich fühlten. Schon hatten sicher alle Beamten, die
Polizei und die gefürchtete Gendarmerie die Stadt ver
lassen — „sobald der Feind drei Stunden weit von der
Stadt entfernt ist", wie es in dem Befehl hieß. Wer wollte
jetzt noch nachprüfen, ob sie schon ein Recht zur Flucht be
saßet? Wie oft, seit Kriegsausbruch, hatte sich die Ko
mödie wiederholt, daß bei jedem Gerücht vom. Nahen des
Feindes alles, was Beine hatte, seinen Pflichtenkreis im
Stich ließ und sich heimlich, bei Nacht und Nebel, erst nach
einiger Zeit wieder einfand! Und jedesmal bei solchem über
stürzten Aufbruch wurde dann irgend ein Aktenarchiv ein
Raub der Flammen: „von deutschen Spionen angelegt".
Aber die russischen Be
amten wußten wohl, daß
es sicherer war, die Spu
ren ihrer Tätigkeit zu ver
nichten, ehe sie von den
Augen ihrer rechtlich
denkenden Feinde be
merkt werden konnten.
Sollte nun seine arme,
geliebte Mutter eines ih
rer letzten Opfer werden?
Nichts hatte sie gesagt,
keine Bitte geäußert —
oh, das sah ihr ähnlich!
Lieber untergehen, als
sich vor dieser Horde
demütigen.
„Mutter, Mutter!"
stieß er hervor und blickte
hilf- und ratlos um sich
her. Wie er sie liebte,
wie sich sein Herz an sie,
sein Einziges auf der
Welt, klammerte! Kaum
je, nur wenn er geschäft
liche Reisen unternehmen
mußte, hatten sie sich ge
trennt. AIs er in Riga
und Petersburg und spä
ter noch in Dresden stu
dierte, mußte sie ihn be
gleiten. Ihr bescheidenes
Einkommen hätte auch
kaum einen doppelten
Haushalt gestattet. Sie
sorgte -und lebte nur für
ihn, er für sie. Wie stolz
war er gewesen, als er
in der Firma Brown &
Co. angestellt wurde und
sich und ihr mit seinem jährlich wachsenden Gehalt die Le
bensbedingungen verbessern konnte! Als einziger Sohn
einer Witwe hatte er nie zu dienen brauchen, noch war
er nun im Kriege eingezogen worden. Rußland hat Söhne
genug — und ihm wurde erspart, gegen Deutschland kämp
fen zu müssen, das er noch ganz anders liebte, seit er es
nicht nur von flüchtigen Besuchen, sondern von längerem
Aufenthalt her kannte. Glückselig hatten sie sich gepriesen,
daß sie nicht persönlich in diesen Krieg mit hineingerissen
wurden,- nun geschah ihm das Ärgste: die Mutter wurde
ihm geraubt!
Vor seinem inneren Auge tauchten die Bilder des
Schreckens und Entsetzens auf, wie sie von einzelnen gemalt
worden waren, die wie durch ein „Wunder" — meistens ein
auf Fürsprache und Geld gebautes — dem Schicksal draußen
entronnen waren. Äußerste Entbehrungen, grausamste Be
handlung, ein Aufenthalt in unwirtlichsten Gegenden,
Krankheit, körperliches und geistiges Verkommen, das harrte
der Armen. Und er fern, ihr unerreichbar, machtlos ihrem
Elend, ihrem gewissen Tod gegenüberstehend.
Nein, es durfte nicht sein, er mußte sie retten! Was er
besaß — ach, es war nicht viel — das wollte er hingeben
für sie, alles opfern, um sie loszukaufen von den Henkern.
Aber an wen sich wenden in dieser Stadt, in der es keine
Behörden mehr gab, in der keines hochgestellten Mannes
Wort und Willen mehr galt, in der Ordnung und Recht
aufgehört hatten?
„Mutter, Mutter," stöhnte er wieder und rang voll Ver
zweiflung die Hände.
„Gott wird mit ihr sein," sagte die Alte voll Ruhe.
„Wenn dich Vater und Mutter verlassen —"
Ein furchtbarer schmetternder Schlag unterbrach sie.
Auch ihre Gelassenheit wurde auf Augenblicke gestört. „Der
letzte Tag is jekommen, ich bereite mich zum Tode vor, tun
Sie es auch, Jaunskungs," bat sie dann und zog sich in die
Küche zurück.
Er hörte sie laut beten.
Sein Tod — was lag an ihm! Aber der Mutter ein jahre
langes, qualvolles Dasein ersparen, das mußte er. Sein
Gehirn arbeitete, einen Rettungsweg mußte er finden
Da fuhr neben ihm
mit lustigem „Kuckuck"
der kleine Vogel aus der
alten Schwarzwälder Uhr
heraus, so fröhlich, als
ginge ihn Leid und Tod
und Krieg nicht im ge
ringsten an.
Ein Uhr. Noch eine
Stunde — denn wer
hatte doch gesagt, er be
willige ihm zwei Stun
den zum Äbschiedneh-
men —?Mr.Brown. Wie
hatte er den vergessen
können! Noch war er da,
noch eine volle, noch eine
kostbare Stunde — er
mußte helfen, nur er
konnte retten! Lange Mi
nuten, fast schon eine
Viertelstunde, mußte er
verloren haben, unseliger
Träumer, langsam Han
delnder, der er war. Nun
vorwärts, vorwärts, um
die Zeit einzuholen!
(Fortsetzung folgt.)
Die englische
Sommeroffensive
in Flandern.
Von Major a.D.E.Moraht.
(Hierzu das Bild Seite 44/45,
sowie die Karte in Band VH
Seite 226.)
Die englische Heeres
leitung hatte schon
unmittelbar nachdem
Deutschland sich in seinem O-Bootkrieg nicht mehr hin
dern ließ» einen großzügigen Landangriff auf die flan
drische Küste beschlossen. Die Wirkungen des O-Bootkrieges
auf England und seine Verbündeten wurden zweifellos
von den Verbandsmächten vorausgesehen. Wurde auch im
mer durch britische Staatsmänner jedes Monatsergebnis der
Versenkungen durch allerlei Rechenkünste abgeschwächt, so
ließ die Presse der Alliierten doch keinen Zweifel darüber,
daß in allen politischen und militärischen Kreisen unserer
Feinde mit Schrecken dem Tage entgegengesehen wurde, an
dem die doppelte Not über England hereinbrechen würde.
Doppelt mußte die Not sein, die unsere Versenkungen
anrichteten, weil infolge des fehlenden Schiffraums Eng
land im wirtschaftlichen Durchhalten an der Grenze an
langen und aus demselben Grunde die Heranschaffung von
Kriegsmaterial aller Art eingeschränkt werden mußte. Diese
Erwägungen ließen England zum ersten Male in diesem
Kriege seine Landkraft restlos einsetzen.
Zunächst versuchte Großbritannien im April des Jahres
1917 durch eine große Frühjahrsoffensive die deutsche Front
1 in Belgien und Frankreich zu erschüttern und zurückzudrücken.
Das Sühnedenkmal in Serajewo zur Erinnerung an die Ermordung des öster
reichisch-ungarischen Erzherzog-Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Gemahlin.