Volltext: Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. Achter Band. (Achter Band)

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Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/18. 
Er hörte kaum mehr auf ihr Geschwätz. Die Mutter ge 
fangen, noch heute, am letzten Tag — welche grausame Fü 
gung des Schicksals! Aber vielleicht konnte er sie noch retten, 
sie noch erreichen, vielleicht, vielleicht, wenn die Deutschen 
rechtzeitig kamen, wenn die Stadt sich ohne Kampf ergab. 
Aber er wußte auch, was es bedeutete, den russischen Sol 
daten ausgeliefert zu sein, wenn sie keine Autorität mehr 
über sich fühlten. Schon hatten sicher alle Beamten, die 
Polizei und die gefürchtete Gendarmerie die Stadt ver 
lassen — „sobald der Feind drei Stunden weit von der 
Stadt entfernt ist", wie es in dem Befehl hieß. Wer wollte 
jetzt noch nachprüfen, ob sie schon ein Recht zur Flucht be 
saßet? Wie oft, seit Kriegsausbruch, hatte sich die Ko 
mödie wiederholt, daß bei jedem Gerücht vom. Nahen des 
Feindes alles, was Beine hatte, seinen Pflichtenkreis im 
Stich ließ und sich heimlich, bei Nacht und Nebel, erst nach 
einiger Zeit wieder einfand! Und jedesmal bei solchem über 
stürzten Aufbruch wurde dann irgend ein Aktenarchiv ein 
Raub der Flammen: „von deutschen Spionen angelegt". 
Aber die russischen Be 
amten wußten wohl, daß 
es sicherer war, die Spu 
ren ihrer Tätigkeit zu ver 
nichten, ehe sie von den 
Augen ihrer rechtlich 
denkenden Feinde be 
merkt werden konnten. 
Sollte nun seine arme, 
geliebte Mutter eines ih 
rer letzten Opfer werden? 
Nichts hatte sie gesagt, 
keine Bitte geäußert — 
oh, das sah ihr ähnlich! 
Lieber untergehen, als 
sich vor dieser Horde 
demütigen. 
„Mutter, Mutter!" 
stieß er hervor und blickte 
hilf- und ratlos um sich 
her. Wie er sie liebte, 
wie sich sein Herz an sie, 
sein Einziges auf der 
Welt, klammerte! Kaum 
je, nur wenn er geschäft 
liche Reisen unternehmen 
mußte, hatten sie sich ge 
trennt. AIs er in Riga 
und Petersburg und spä 
ter noch in Dresden stu 
dierte, mußte sie ihn be 
gleiten. Ihr bescheidenes 
Einkommen hätte auch 
kaum einen doppelten 
Haushalt gestattet. Sie 
sorgte -und lebte nur für 
ihn, er für sie. Wie stolz 
war er gewesen, als er 
in der Firma Brown & 
Co. angestellt wurde und 
sich und ihr mit seinem jährlich wachsenden Gehalt die Le 
bensbedingungen verbessern konnte! Als einziger Sohn 
einer Witwe hatte er nie zu dienen brauchen, noch war 
er nun im Kriege eingezogen worden. Rußland hat Söhne 
genug — und ihm wurde erspart, gegen Deutschland kämp 
fen zu müssen, das er noch ganz anders liebte, seit er es 
nicht nur von flüchtigen Besuchen, sondern von längerem 
Aufenthalt her kannte. Glückselig hatten sie sich gepriesen, 
daß sie nicht persönlich in diesen Krieg mit hineingerissen 
wurden,- nun geschah ihm das Ärgste: die Mutter wurde 
ihm geraubt! 
Vor seinem inneren Auge tauchten die Bilder des 
Schreckens und Entsetzens auf, wie sie von einzelnen gemalt 
worden waren, die wie durch ein „Wunder" — meistens ein 
auf Fürsprache und Geld gebautes — dem Schicksal draußen 
entronnen waren. Äußerste Entbehrungen, grausamste Be 
handlung, ein Aufenthalt in unwirtlichsten Gegenden, 
Krankheit, körperliches und geistiges Verkommen, das harrte 
der Armen. Und er fern, ihr unerreichbar, machtlos ihrem 
Elend, ihrem gewissen Tod gegenüberstehend. 
Nein, es durfte nicht sein, er mußte sie retten! Was er 
besaß — ach, es war nicht viel — das wollte er hingeben 
für sie, alles opfern, um sie loszukaufen von den Henkern. 
Aber an wen sich wenden in dieser Stadt, in der es keine 
Behörden mehr gab, in der keines hochgestellten Mannes 
Wort und Willen mehr galt, in der Ordnung und Recht 
aufgehört hatten? 
„Mutter, Mutter," stöhnte er wieder und rang voll Ver 
zweiflung die Hände. 
„Gott wird mit ihr sein," sagte die Alte voll Ruhe. 
„Wenn dich Vater und Mutter verlassen —" 
Ein furchtbarer schmetternder Schlag unterbrach sie. 
Auch ihre Gelassenheit wurde auf Augenblicke gestört. „Der 
letzte Tag is jekommen, ich bereite mich zum Tode vor, tun 
Sie es auch, Jaunskungs," bat sie dann und zog sich in die 
Küche zurück. 
Er hörte sie laut beten. 
Sein Tod — was lag an ihm! Aber der Mutter ein jahre 
langes, qualvolles Dasein ersparen, das mußte er. Sein 
Gehirn arbeitete, einen Rettungsweg mußte er finden 
Da fuhr neben ihm 
mit lustigem „Kuckuck" 
der kleine Vogel aus der 
alten Schwarzwälder Uhr 
heraus, so fröhlich, als 
ginge ihn Leid und Tod 
und Krieg nicht im ge 
ringsten an. 
Ein Uhr. Noch eine 
Stunde — denn wer 
hatte doch gesagt, er be 
willige ihm zwei Stun 
den zum Äbschiedneh- 
men —?Mr.Brown. Wie 
hatte er den vergessen 
können! Noch war er da, 
noch eine volle, noch eine 
kostbare Stunde — er 
mußte helfen, nur er 
konnte retten! Lange Mi 
nuten, fast schon eine 
Viertelstunde, mußte er 
verloren haben, unseliger 
Träumer, langsam Han 
delnder, der er war. Nun 
vorwärts, vorwärts, um 
die Zeit einzuholen! 
(Fortsetzung folgt.) 
Die englische 
Sommeroffensive 
in Flandern. 
Von Major a.D.E.Moraht. 
(Hierzu das Bild Seite 44/45, 
sowie die Karte in Band VH 
Seite 226.) 
Die englische Heeres 
leitung hatte schon 
unmittelbar nachdem 
Deutschland sich in seinem O-Bootkrieg nicht mehr hin 
dern ließ» einen großzügigen Landangriff auf die flan 
drische Küste beschlossen. Die Wirkungen des O-Bootkrieges 
auf England und seine Verbündeten wurden zweifellos 
von den Verbandsmächten vorausgesehen. Wurde auch im 
mer durch britische Staatsmänner jedes Monatsergebnis der 
Versenkungen durch allerlei Rechenkünste abgeschwächt, so 
ließ die Presse der Alliierten doch keinen Zweifel darüber, 
daß in allen politischen und militärischen Kreisen unserer 
Feinde mit Schrecken dem Tage entgegengesehen wurde, an 
dem die doppelte Not über England hereinbrechen würde. 
Doppelt mußte die Not sein, die unsere Versenkungen 
anrichteten, weil infolge des fehlenden Schiffraums Eng 
land im wirtschaftlichen Durchhalten an der Grenze an 
langen und aus demselben Grunde die Heranschaffung von 
Kriegsmaterial aller Art eingeschränkt werden mußte. Diese 
Erwägungen ließen England zum ersten Male in diesem 
Kriege seine Landkraft restlos einsetzen. 
Zunächst versuchte Großbritannien im April des Jahres 
1917 durch eine große Frühjahrsoffensive die deutsche Front 
1 in Belgien und Frankreich zu erschüttern und zurückzudrücken. 
Das Sühnedenkmal in Serajewo zur Erinnerung an die Ermordung des öster 
reichisch-ungarischen Erzherzog-Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Gemahlin.
	        
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