Volltext: Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. Achter Band. (Achter Band)

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Illustrierte Keschichte des Weltkrieges 1914/18. 
Politik. Am 4. Februar 1917 hatten die Vertrauensmänner 
der flämischen Gruppen in Brüssel den „Rat von Flandern" 
gewählt. Er war vom Reichskanzler empfangen und mit 
guten Hoffnungen für die freie Entwicklung des flämischen 
Volkes entlassen worden. Nun stand die Verwaltungs 
trennung Belgiens zur Besprechung: Flandern und die 
Wallonei sollten geschaffen werden. Starke Widerstände 
im Lande waren zu erwarten. Man wollte nichts, was 
wie eine Gabe der Deutschen aussah. Und die flämischen 
Aktivisten fühlten sich noch so wenig sicher im Sattel, daß sie 
auch den Schein eines geselligen Zusammenhanges mit den 
bösen Deutschen vermeiden mußten. 
Ein Jahr später. Ein sonniger Februarsonntag in Ant 
werpen. In den Straßen wogt um die Mittagstunde 
erwartungsvoll eine dichte Menge. Vom Turm der be 
rühmten Kathedrale ertönt plötzlich eine helle Elocken- 
stimme — zum ersten Male seit der Besetzung der Stadt 
im Kriege. Man staunt, man raunt, man erörtert. Musik 
ertönt. Fahnen tauchen auf, und mit Gesang zieht eine 
Abordnung flämischer Aktivisten, Center Studenten in 
hatten die Gegner die Bewegung totgeschwiegen. Jetzt 
schrien sie. Mehr konnte man nicht verlangen. Und wie 
viele schrien nur mit, um endlich einmal ihrem Unmut 
gegen den Krieg, die Deutschen, gegen die Teuerung und 
die ganze traurige Zeit nach Vätersitte freien Lauf zu lassen! 
In der Tat, dachte man zurück an die kleine, vorsichtige 
Zusammenkunft vor Jahr und Tag, und sah nun dieses 
stürmische Volksgewühl, so war der Unterschied klar genug. 
Die flämische Bewegung war im Flusse, sie schwoll und 
wuchs, sie zwang auch den Lauen, Vorsichtigen zur Ent 
scheidung in irgendeinem Sinne. 
Warum aber und wofür sollen sich die Flamen entschei 
den? Und warum jetzt im Kriege? 
Die einigermaßen erschöpfende Antwort auf diese Fragen 
würde ein Buch füllen, und solcher Bücher gibt es zur Ge 
nüge . Die Flamen selber sind während des Krieges mit Dutzen 
den von Aufklärungschriften an die Werbearbeit gegangen, 
und auch die deutsche Flamenliteratur ist nicht gering. Es 
lohnt sich für uns durchaus, die Leidensgeschichte dieses 
stammverwandten Volkes besser kennen zu lernen als bisher. 
Die Ruinen der Tuchhallen von Bpevn und der Kathedrale St. Martin im Moud'chein. 
Nach einer englischen Darstellung. 
ihren Kappen wohlgemut voraus, zur Wahlversammlung 
in die Börse. .Wahltag ist heute. Der Rat von Flandern und 
die Gaüräte der Provinz Antwerpen stehen neu zur Wahl. 
Das flämische Volk soll befragt werden, ob es ein selb 
ständiges Flandern will. Die Aktivisten sind aus der Ver 
borgenheit hervorgetreten, sie füllen zu Tausenden den 
Niesensaal und seine Galerien, sie schwingen die Fahnen 
mit dem schwarzen Löwen auf gelbem Grunde, und don 
nernd erbraust der Beifall, wenn August Borms, der Volks 
redner und Hauptsprecher des Tages, oder wenn Professor 
Tack, der Bevollmächtigte des Rates, mit stolzen Worten 
verkünden: „Flaamland ist geboren." 
Jede Geburt geht unter schmerzhaften Wehen vor sich. 
Sie blieben auch hier nicht aus. AIs die Aktivisten nach dem 
Wahlakt durch die Straßen zogen» die Musik und die Führer 
voran, da gab es ein Pfeifen, Johlen und Huh-Schreien 
der Gegner, daß man jeden Augenblick den Ausbruch eines 
Bürgerkrieges befürchten mußte. Wer die belgischen Sitten 
nicht kennt, konnte meinen, es stehe schlecht um die flämische 
Bewegung. Die Führer aber- waren mit diesem sorgsam 
organisierten Aufgebot der Opposition sehr zufrieden. Es 
bedeutete die Anerkennung ihrer politischen Macht. Bisher 
Die politische Tragödie Flanderns beginnt unter dem 
blutigen Regimente Philipps II. von Spanien. Damals, 
im sechzehnten Jahrhundert, erkämpften sich die protestan 
tischen Niederlande die Freiheit vom spanischen Joch und 
begründeten ein eigenes Volkstum. Die Südprovinzen, 
ungefähr das heutige Belgien, blieben spanische Provinz, 
fielen im achtzehnten Jahrhundert an Österreich, dann 
kurze Zeit an Frankreich, und wurden nach der Schlacht bei 
Waterloo mit Holland vereinigt. Im Jahre 1830 hoben 
England und Frankreich die Verbindung auf und schufen den 
neuen Staat Belgien mit seinen heutigen Grenzen. Er 
wird von viereinhalb Millionen Flamen und drei Millionen 
Wallonen bewohnt; die ersteren sprechen ihre nieder 
deutsche Muttersprache, die Wallonen reden ein roma 
nisches Französisch, ihre Schriftsprache ist rein französisch. 
In dieser Zweisprachigkeit, die ja nichts anderes ist als der 
Ausdruck der Verschiedenheit der beiden Volkscharaktere, 
ruht der Kern der belgischen Frage. 
Die Flamen fühlten sich von Anfang an trotz ihrer 
größeren Zahl als die minderwertigen Staatsbürger be 
handelt. Die Wallonen verstanden es, sich im Bunde mit 
der französischen Kultur nicht nur wirtschaftlich den Vor-
	        
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