Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

56 Der dritte Abschnitt der Jugendgeschichte. 
drücke; er hat in dieser märchenhaften Stadt einen Liebestraum ge 
nossen, der in seinem Leben wohl nicht der erste, auch nicht der letzte, 
aber vielleicht der glücklichste und erinnerungsreichste gewesen ist. Seine 
Schwester war von der weichen Stimmung überrascht, in welcher seine 
Briefe von dem geliebten Venedig und seinen dortigen Erlebnissen 
redeten, sie hatte ihm so leidenschaftliche Gefühle gar nicht zugetraut. 
Nach seiner Schilderung war die Geliebte reich und von Stande, auch 
bereit, ihm zu folgen, so daß einer Heirath nichts im Wege stand als 
sein Widerwille gegen die Ehe. 
2. Lord Byron. 
Während Schopenhauer sich zweimal längere Zeit in Venedig auf 
hielt, lebte hier Lord Byron, der im Mai 1818 wiederum nach 
Venedig gekommen war und im Landhause La Mira, dann im Palast 
Mocenigo mit venetianischen Frauen niederen Standes ein tolles Leben 
führte, bis er im April 1819 die Gräfin Teresa Guiccioli kennen lernte, 
und die Liebe zu ihr dem wüsten Treiben ein Ende machte. Seine 
jüngsten Dichtungen waren Childe Harold, der Gefangene von Chillon, 
und Manfred. 
Schopenhauer hatte beim Antritt seiner Reise von Goethe eine 
Empfehlungskarte an Byron erhalten. Man weiß, welche hohe Ver 
ehrung beide Dichter für einander, welche schwärmerische Bewunderung 
Goethes Schwiegertochter Ottilie für Byron hegte; diese Bewunderung 
wurde von ihrer vertrautesten Freundin Adele Schopenhauer getheilt, 
die nun mit großer Spannung den Nachrichten des Bruders entgegensah, 
aber zu ihrem Befremden aus seinen Briefen nichts über Byron erfuhr. 
Als er eines Tages auf dem Lido mit seiner Freundin spazieren 
ging, jagte plötzlich ein Reiter im Galopp an ihnen vorüber. «Ecco 
il poeta inglese!» rief die Freundin aus und konnte den Eindruck 
Byrons nicht mehr vergessen. Dadurch wurde die Eifersucht Schopen 
hauers dergestalt erregt, daß er die Bekanntschaft dieses großen und 
interessanten Dichters vermied, was er in späteren Jahren außer 
ordentlich bereut hat. So hat er jene Begegnung einem jüngeren 
Freunde, dem Musiker R. v. Hornstein, erzählt und hinzugefügt, daß 
damals die drei größten Pessimisten der Welt zugleich in Italien ge 
wesen seien: Byron, Leopardi und er selbst- 1 
1 Grisebach VI. S. 191 ff. Robert von Hornstein: „Meine Erinnerungen 
an Schopenhauer" (Neue freie Presse, den 21.-22. November 1883).
	        
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