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Die Kritik der Lehre Schopenhauers.
in seinem System vereinigen: hieraus entsprang die Antinomie, die
sich in jene fehlerhafte Cirkelerklärung verstrickte.
Wir können an dieser Stelle einen recht deutlichen Einblick in die Ent
stehungsart der Lehre Schopenhauers und ihrer Widersprüche gewinnen.
Nichts erscheint ihm einleuchtender und gewisser, als Kants Lehre von Zeit
und Raum. Nichts ist evidenter, augenscheinlicher, thatsächlicher, als
daß alle intellectuelle Thätigkeit nicht bloß das Gehirn zu ihrem
Werkzeuge bedarf, sondern ganz und gar von demselben erzeugt wird.
Nun müssen beide incompatible Lehren, die des transscendentalen
Idealismus und die des materialistisch gesinnten Sensualismus, mit
einander verknüpft und zusammengezwungen werden, wirklich pur ordre
de mufti. Schopenhauer ist selbst, wie er bekennt, darüber erstaunt
gewesen, daß seine auf so verschiedenen Wegen entstandenen Grund
überzeugungen in einem und demselben Centrum zusammentrafen, und
ein System daraus hervorging, welches dem hundertthorigen Theben glich!
2. Da alle Erkentniß ein organisches Product, der Leib aber,
aus dem sie hervorgeht, die Erscheinung des Willens ist, so ist der
Jntellect und das Selbstbewußtsein nicht bloß secundär, sondern
„tertiär". Wie verträgt sich nun diese Grundlehre Schopenhauers
mit dem Grundcharakter seines ganzen Systems, welches die Welt als
die Selbsterkenntniß des Willens betrachtet? Dieses Endziel der Welt
muß demnach als die Vollendung ihres Stufenganges, als die höchste
Weltstufe oder Weltidee gefaßt werden, die als solche nach Schopen
hauers ausdrücklicher Lehre einen unvergänglichen Typus ausmacht
und nicht erst auf der animalischen Stufe des Daseins dem Willen
gleichsam parasitisch zuwächst, wie doch Schopenhauer ebenfalls in der
nachdrücklichsten Weise gelehrt und stets behauptet hat.
Er hat seiner Lehre von dem tertiären Charakter der Erkenntniß
und des Selbstbewußtseins auf Schritt und Tritt widersprechen müssen,
da die Selbsterkenntniß des Willens, als welche die Aufgabe und das
Thema der Welt bildet, die fortschreitende Steigerung und Erhöhung
unserer Erkenntnißzustände fordert, diese aber unmöglich sind, wenn
alle intellectuelle Thätigkeit nichts anderes sein soll als die Function
des Gehirns. Wir stehen vor einer neuen Antinomie. Die Thesis
erklärt: die Erkenntniß gehört zu den Weltstufen oder Ideen, die ewig
gewollt sind, daher schließt der Wille das Erkenntnißvermögen (das
! Erkennenwollen) in sich. Die Antithesis erklärt: die Erkenntniß ist
lediglich organisches Product und entsteht aus dem animalischen Be-