Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

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Die Kritik der Lehre Schopenhauers. 
keine Welt als Vorstellung oder als Object, keine Sinnenwelt, keine gesetz 
mäßige Körperwelt in Zeit und Raum. Die Gesetzmäßigkeit besteht 
in der causalen Verknüpfung, in der Herrschaft des Satzes vom 
Grunde, der auch Zeit und Raum in sich schließt, denn diese sind 
auch Causalität. Zeit, Raum und Causalität sind nicht Vorstellungs 
objecte, sondern Vorstellungsformen, die vorstellende Thätigkeit selbst, 
die Grundformen des sinnlich anschauenden Jntellects, dieser aber ist 
die Function des Gehirns. Daher nennt Schopenhauer die Welt als 
Vorstellung Gehirnphänomen, die Welt als Erscheinung des Dinges 
an sich dagegen Willensphänomen: sie ist als jenes durchaus 
ideal (vorgestellt), als dieses dagegen real; die Unterscheidung zwischen 
Gehirnphänomen und Willensphänomen deckt sich demnach mit der 
Unterscheidung zwischen dem Idealen und Realen, welche festzustellen 
das eigentliche Problem der ganzen neueren Philosophie war. 
Hier aber treffen wir auf jenen Widerstreit, den Schopenhauer 
selbst „die Antinomie in unserem Erkenntnißvermögen" genannt hat: 
Vielheit, Mannichfaltigkeit, Gesetzmäßigkeit sind nur unter der Herrschaft 
des Satzes vom Grunde in Zeit und Raum möglich, diese aber sind 
die Formen des Jntellects und daher lediglich Gehirnphänomene. Wo 
bleibt die Vielheit, Mannichfaltigkeit, Gesetzmäßigkeit der gehirnlosen, 
aller thierisch-menschlichen Organisation vorausgehenden Welt? Die 
Thesis erklärt: unser Erkennen ist ein organisches Product und hat als 
solches den ganzen Stufengang der thierisch-menschlichen Organisation, 
die Pflanzenwelt, die Entwicklungsgeschichte des Weltalls und der Erde 
zu ihrer Voraussetzung. Die Antithesis erklärt: das gesammte Welt 
all in seiner Vielheit, Mannichfaltigkeit und Gesetzmäßigkeit hat das 
erkennende Subject (den Jntellects zu seiner Voraussetzung und zu 
seinem Träger? 
Jntellect und Gehirn sind bei Schopenhauer identisch: sie verhalten 
sich, wie Function und Organ. Zeit und Raum sind nur im Gehirn. 
Und dieses selbst? Es ist mit allem Zubehör und allen seinen Be 
dingungen und Vorbedingungen in Zeit und Raum! Hier verläuft sich die 
Lehre Schopenhauers in einen handgreiflichen circulus vitiosus, welchen 
er selbst auch wohl gefühlt und wegzuräumen sich viel, aber vergeblich 
bemüht hat? Da das Gehirn nicht bloß Erkenntnißorgan, sondern auch 
i Ebendas. Buch II. Cap. IV. S. 206—207. - i 2 Meine Kritik der 
Kantischen Philosophie (2. Aufl. 1892). Cap. I. S. 17-21.
	        
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