Schopenhauers kritisches Verhalten zur Philosophie. 479
6. Die Abrechnung, welche Locke begonnen hat, führt Berkeley
zu einem gewissen Abschluß. Man möge denselben mit Malebranche und
Spinoza vergleichen, aber es besteht zwischen ihnen keineswegs „die
genaueste Verwandtschaft", von welcher Schopenhauer redet. Auch ist
Berkeley in keiner Weise Locken voranzustellen, denn er ist zeitlich wie
sachlich sein Nachfolger/ Was jener halb gethan hat, thut dieser
ganz: er weist nach, daß Lockes primäre Qualitäten secnndäre, d. h.
nichts anderes als subjektive Eindrücke oder Ideen (Perceptionen) sind;
daß mithin von der Materie oder Ausdehnung nichts Reales, kein
Ding an sich übrig bleibt, daß die Körperwelt ohne Rest in die Vor
stellung oder das Vorgestelltsein aufgeht, daß sie durchaus ideal oder
phänomenal ist, und unabhängig von den Ideen (vorgestellten Dingen)
nur denkende und wollende Wesen als Dinge an sich existiren: Gott
und die Geister.
Dies ist der Standpunkt des „Idealismus", welchen Berkeley
zum ersten male in diesem Umfange ausgeführt und mit diesem Worte
bezeichnet hat. Die Frage nach dem Realen hat er gar nicht gelöst
und die Feststellung des Idealen ungesichtet gelassen, da er zwischen
dem Stoff der Vorstellung und den Formen des Vorstellens nicht zu
unterscheiden gewußt und Raum und Zeit auf gleichem Fuße behandelt
hat, wie Farben und Töne. Daher bleibt der Ursprung und die Ent
stehung der Ideen oder Wahrnehmungsobjecte völlig unerklärt; sie
sind in uns durch Gott gegeben: das ist alles, was der Bischof
Berkeley zu sagen weiß.
7. Wir stehen vor der Frage nach dem Grunde oder dem
Causalitätsverhältniß, dessen reale Geltung Locke behauptet und Hume
bestritten hat, wodurch das Erkenntnißproblem zu dem Punkte geführt
worden ist, wo es Kant ergriff und auflöste. Hume hatte zu seinen
nächsten Vorgängern Locken und Berkeley, wie Locke zu den seinigen
Bacon und Hobbes.
III. Die Kritik der Kantischen Philosophie.
1. Die Aufgabe.
Schopenhauer hat zu wiederholten malen versichert, daß zwischen
Kant und ihm (während des Menschenalters von 1790—1820) in
der Philosophie sich nichts von irgend welcher Bedeutung oder der
Rede werthes zugetragen habe, es seien drei Pseudophilosophen auf-
* Ebendas. Skizze. S. 14-15.