Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Verhältniß der Lehre Schopenhauers zu der Religion und den Religionen. 457 
in zwei Hauptstücken seiner Lehre für sich zu haben, und widmete 
ihm sogar häusliche Bilderverehrung. 1 
5. Die Heilsordnung. 
Nunmehr erscheint uns die Welt in einem neuen Licht. Wenn 
in ihrem Wesen das Leiden begründet ist und nothwendig aus dem 
selben folgt, sich mit dem Stufengange der Dinge steigert, um so 
tiefer empfunden wird, je höher die Vorstellungs- und Erkenntniß 
zustände sich entwickeln, das empfundene Leiden aber die Kraft der 
Läuterung besitzt und zur Erlösung führt, so gewinnt das Dasein der 
Welt eine moralische Bedeutung und erscheint selbst als „Heils 
ordnung", wie denn auch Schopenhauer in einem der letzten Capitel 
des ergänzten Hauptwerks sie als solche betrachtet? Nicht die Welt 
befindet sich auf dem Irrwege, sondern wir, die wir uns einbilden, 
zum Glück und Wohlsein geboren zu sein. Gleich in den ersten Worten 
seiner Lehre von der Heilsordnung erklärt Schopenhauer diese Vor 
stellung für den einzigen uns angeborenen Irrthum. 
Der Weltlauf ist so eingerichtet, daß er diesen Irrthum gründlich 
widerlegt, uns in der Schule des Leidens die vielen und heftigen 
Willensbejahungen allmählich abgewöhnt, unsere Bestrebungen vereitelt, 
zuletzt durch den Tod völlig zu nichte macht. Der natürliche Lebenslauf 
nimmt dieselbe Richtung, er ist ein beständiges Vergehen und Sterben; 
das zunehmende Alter läßt uns der Welt auf natürlichem Wege ab 
sterben, die Zeugungskraft versiegt, die Selbstliebe erlischt in der Liebe 
zu Kindern und Enkeln, der Greis will nichts mehr für sich und hat 
nichts mehr zu wollen, daher ist das Altern die Euthanasie des 
Willens und der menschliche Lebenslauf eine natürliche Heilsordnung, 
in welche nur der vorzeitige und plötzliche Tod nicht paßt. 
Das Unglück läutert, wenn es den Willen bricht und die Liebe 
zum Leben auslöscht: daher ihm eine heiligende Kraft zugeschrieben 
wird, und ein von den Schlägen des Schicksals schwer betroffener Mensch 
als ein geheiligtes, unverletzbares Wesen erscheint, gleichsam sacrosanct. 
Der Tod erlöst, wenn die Verneinung des Willens vorangegangen 
oder im Angesichte des Todes noch vor dem Ende erfolgt ist: daher 
der Tod wie eine Heiligsprechung erscheint und der Anblick eines 
* Vgl. oben Buch I. Cap. V. S. 74. - Wandsbecker Bote. Bd. I. S. 73 
bis 75. IV. S. 227-230 betr. Moses I. Cap. III. v. 17—19. - 2 Die Welt 
als Wille u. s. f. Bd. II. Cap. XLIX. S. 726-733.
	        
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