Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Das Fundament der Ethik als deren zweites Grundproblem. 433 
„Der Egoismus ist grenzenlos, er ist colossal und überragt die Welt/' 
„Indem ich", sagt Schopenhauer, „um ohne Weitläufigkeit die Stärke 
dieser antimoralischen Potenz auszudrücken, darauf bedacht war, die 
Größe des Egoismus mit einem Zuge zu bezeichnen, und deshalb 
nach einer recht emphatischen Hyperbel suchte, bin ich zuletzt auf diese 
gerathen: mancher Mensch wäre im Stande einen andern todtzuschlagen, 
bloß um mit dessen Fette sich die Stiefeln zu schmieren. Aber dabei 
blieb mir doch der Skrupel, ob es auch wirklich eine Hyperbel wäre/" 
Das Gegentheil der Menschenliebe sind Gehässigkeit und Uebel 
wollen, aus welchen Gesinnungen bei dem Anblick fremden Wohls 
der Neid, bei dem fremden Wehes die Schadenfreude hervorgeht, 
und wenn das fremde Wehe nicht bloß vergnüglich betrachtet, sondern 
ohne allen eigenen Nutzen verursacht wird, bloß um sich daran zu weiden, 
die Bosheit und die Grausamkeit, deren Grundsatz heißt: „Thue 
so viel Unrecht und Uebel, als du kannst (omnes, quantum potes, 
laede)". 
Die Gegentheile der Tugenden sind die Laster. Wie die beiden 
Grundformen aller Tugend die Gerechtigkeit und die Menschenliebs 
sind, so sind die beiden Grundformen aller Laster der Egoismus und 
die Gehässigkeit, deren Extrem in der Bosheit besteht. Aus dem 
Egoismus folgen „Gier, Völlerei, Wollust, Eigennutz, Geiz, Habsucht, 
Ungerechtigkeit, Hartherzigkeit, Stolz, Hoffart u. s. w., aus der Ge 
hässigkeit aber Mißgunst, Neid, Uebelwollen, Bosheit, Schadenfreude, 
spähende Neugier, Verleumdung, Insolenz, Petulanz, Haß, Zorn, 
Verrath, Tücke, Rachsucht, Grausamkeit u. s. w. Die erste Wurzel 
ist mehr thierisch, die zweite mehr teuflisch." Diese Versammlung 
von Lastern gleicht der Hölle Dantes und dem Pandämonium Miltons? 
Das Thema alles menschlichen Wollens in zahllosen Variationen 
ist unser Wohl und Wehe. Es giebt nichts Drittes. Dieses Thema 
aber zerfällt in drei Arten: entweder handelt es sich lediglich um das 
eigene Wohl und Wehe, oder um das fremde Wehe, oder um das 
fremde Wohl. Das eigene Wohl ist das Ziel des Egoismus, das 
srenlde Wehe ist das der Bosheit, das fremde Wohl ist das der 
Gerechtigkeit und Menschenliebe. Eine so scharfe Grenzlinie scheidet 
die Jmmoralität von der Moralität, die „antimoralischen Triebfedern", 
wie Schopenhauer sie nennt, von den „moralischen". Sollte es noch 
1 Das Fundament der Moral. § 14. S. 201. — 2 Ebendas. § 14. S. 204. 
Fischer, Gesch. d. Philoi. IX. 2. Säuft. N. Sä. 28
	        
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