430 Das Fundament der Ethik als deren zweites Grundproblem.
Abbüßung und demgemäß die Welt eine Buß- und Strafanstalt ist
und sein muß: darin besteht die ewige Gerechtigkeit oder das Welt
gericht, welches nicht erst am jüngsten Tage kommen wird, sondern
schon am ersten erschienen ist und nie aufgehört hat sich zu offen
baren. Es ist so alt wie die Welt. Mit der Erkenntniß des Welt
elends vereinigt sich die des Weltgerichts und ruft dem Willen zu: „Das
bist du! Das alles ist dein Werk und deine Schuld! Weil du so
nichtswürdig bist, darum ist die Welt so traurig. Du l'as voulu!"
Aus der Erkenntniß der ewigen Gerechtigkeit leuchtet ein, daß
die Erlösung aus den Banden dieser Buß- und Strafanstalt nur
durch die Tilgung der Schuld geschehen kann; und da alle Schuld
aus der Bejahung des Willens zum Leben hervorgeht, so kann die
Schuld auch nur durch die Verneinung des Willens zum Leben getilgt
werden. So lange der Wille noch durch Motive zu diesem oder jenem
bestimmt wird, so lange währt seine Selbstbejahung. Erst wenn die
Motive zu wirken aufhören, tritt das Quietiv ein und beschwichtigt
den Sturm und die Unruhe der Affecte: erst dann wendet sich der
Wille von der Selbstbejahung zur Selbstverneinung, und die Erlösung
gelangt zum Durchbruch.
Wir stehen unmittelbar vor der Grundfrage der Ethik: Motiv
oder Quietiv? Auch ist schon in der Wurzel des empirischen Charakters
der intelligible, d. i. die moralische Freiheit, nachgewiesen worden, kraft
welcher der Wille das Quietiv ergreifen, sich wenden und die Erlösung
herbeiführen kann. Die Frage nach der menschlichen Willensfreiheit
war jenes erste Grundproblem der Ethik, dessen Lösung Schopenhauer
in seiner ersten Preisschrift ausgeführt hat.^ Nun aber sind die em
pirischen, von Motiven beherrschten Charaktere mit ihrer individuellen,
angeborenen Gesinnungsart, dieser That des intelligibeln Charakters,
von sehr verschiedener moralischer Beschaffenheit, wie denn der Unterschied
guter und schlechter Menschen als eine unleugbare, überall im Leben
und im Sprachgebrauch anerkannte Thatsache gilt. Worin besteht und
wie erklärt sich dieser Unterschied? Welches sind die Principien der
guten Denk- und Handlungsweise? Mit diesen Fragen als ihrem
Grundthema hat sich von jeher alle Sitienlehre beschäftigt, die ge
wöhnliche und die philosophische; sie bilden „das zweite Grundproblem
i S. oben Buch II. Cap. XV. S. 397-405.