Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Das Weltgericht. 
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Liebesblick, nicht dem Guten gehöret die Erde." Der Böse lebt herr 
lich und in Freuden, während der Tugendhafte erdrückt wird vom 
Uebermaße des Leidens. Ein anderes Individuum ist der Quäler, ein 
anderes der Gequälte. 
Indessen wird schon die etwas tiefere Betrachtung der vorhandenen 
Welt gewahr werden, daß es überhaupt kein zeitliches Glück giebt, 
daß alles sogenannte Glück in dieser Welt auf untergrabenem Boden 
wandelt und dem Schiffer im Schiffchen gleicht mitten auf tobendem 
Meer. Fällt aber der Schleier der Maja, wird das p>riuoixiuiu iu- 
dividuationis durchschaut, so erkennt man, daß eines und dasselbe 
Wesen die Uebel sowohl verursacht als auch erleidet und beides zugleich ist: 
quälend und gequält, peinigend und gepeinigt. Die Weisheit des Beda 
offenbart ihrem Lehrlinge das Geheimniß der Welt, indem sie alle Er 
scheinungen an ihm vorüberziehen und jede zu ihm sprechen läßt: 
„Das bist Du!" «lat twam asi!» Es ist die mystische Formel des 
Brahmanismus. 
2. Die Seelenwariderung. Metempsychose und Palingenesie. 
Diese tiefste der Wahrheiten, die in der Wesenseinheit aller Er 
scheinungen besteht, läßt sich dem Sinne des Volks nur dadurch 
einleuchtend machen, daß ihm das Präsens in der Form des Futurums, 
die Gegenwart in der Form der Zukunft, die Vereinigung entgegen 
gesetzter Zustände in einem und demselben Wesen in der Form der 
Succession oder Zeitfolge, d. h. mythisch dargestellt wird. Das 
Thema der mythischen Darstellung heißt nicht: „Das bist du!" sondern 
„Das wirst du sein!" Die Uebel, welche du jetzt verursacht hast, wirst 
du künftig erleiden; jetzt bist du der Quäler, künftig wirst du der 
Gequälte sein!" 
So erscheint die mystische Formel des Brahmanismus in der 
mythischen Form der Seelenwanderung, welche Schopenhauer als die 
tiefsinnigste und wahrste aller Mythen preist, als das 11011 plus ultra 
der Mythologie. Die Strafe der zeitlichen Gerechtigkeit war ab 
schreckend, nicht vergeltend. Die ewige Gerechtigkeit dagegen übt die 
Vergeltung und läßt die künftigen Zustände, welche in der Seelen 
wanderung erlebt werden sollen, als Vergeltungszustände erscheinen. 
Was du Uebles gethan hast, sollst du büßen; dieselben Leiden, die du 
verhängt hast, sollst du erdulden. Der Thierquäler wird in der 
Gestalt des gequälten Thieres wiedererscheinen.
	        
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