Das Weltgericht.
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Liebesblick, nicht dem Guten gehöret die Erde." Der Böse lebt herr
lich und in Freuden, während der Tugendhafte erdrückt wird vom
Uebermaße des Leidens. Ein anderes Individuum ist der Quäler, ein
anderes der Gequälte.
Indessen wird schon die etwas tiefere Betrachtung der vorhandenen
Welt gewahr werden, daß es überhaupt kein zeitliches Glück giebt,
daß alles sogenannte Glück in dieser Welt auf untergrabenem Boden
wandelt und dem Schiffer im Schiffchen gleicht mitten auf tobendem
Meer. Fällt aber der Schleier der Maja, wird das p>riuoixiuiu iu-
dividuationis durchschaut, so erkennt man, daß eines und dasselbe
Wesen die Uebel sowohl verursacht als auch erleidet und beides zugleich ist:
quälend und gequält, peinigend und gepeinigt. Die Weisheit des Beda
offenbart ihrem Lehrlinge das Geheimniß der Welt, indem sie alle Er
scheinungen an ihm vorüberziehen und jede zu ihm sprechen läßt:
„Das bist Du!" «lat twam asi!» Es ist die mystische Formel des
Brahmanismus.
2. Die Seelenwariderung. Metempsychose und Palingenesie.
Diese tiefste der Wahrheiten, die in der Wesenseinheit aller Er
scheinungen besteht, läßt sich dem Sinne des Volks nur dadurch
einleuchtend machen, daß ihm das Präsens in der Form des Futurums,
die Gegenwart in der Form der Zukunft, die Vereinigung entgegen
gesetzter Zustände in einem und demselben Wesen in der Form der
Succession oder Zeitfolge, d. h. mythisch dargestellt wird. Das
Thema der mythischen Darstellung heißt nicht: „Das bist du!" sondern
„Das wirst du sein!" Die Uebel, welche du jetzt verursacht hast, wirst
du künftig erleiden; jetzt bist du der Quäler, künftig wirst du der
Gequälte sein!"
So erscheint die mystische Formel des Brahmanismus in der
mythischen Form der Seelenwanderung, welche Schopenhauer als die
tiefsinnigste und wahrste aller Mythen preist, als das 11011 plus ultra
der Mythologie. Die Strafe der zeitlichen Gerechtigkeit war ab
schreckend, nicht vergeltend. Die ewige Gerechtigkeit dagegen übt die
Vergeltung und läßt die künftigen Zustände, welche in der Seelen
wanderung erlebt werden sollen, als Vergeltungszustände erscheinen.
Was du Uebles gethan hast, sollst du büßen; dieselben Leiden, die du
verhängt hast, sollst du erdulden. Der Thierquäler wird in der
Gestalt des gequälten Thieres wiedererscheinen.