Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Das Weltgericht. 
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Der Widerspruch dieser beiden Selbstbetrachtungen ist auch in 
zwei contradictorischen Sätzen die Doppelantwort auf die Frage nach der 
Vergänglichkeit oder Unvergünglichkeit unseres Daseins: Ich, dieses 
Individuum, der Gegenstand meiner empirischen Selbstbetrachtung, bin 
vergänglich; Ich, der Wille zum Leben, der unmittelbare Gegenstand 
meines Selbstbewußtseins, bin unvergänglich. Könnte dieses Wesen 
in irgend einem Dinge zu Grunde gehen, so wäre das Wesen aller 
Dinge, das Urwesen selbst vernichtet, wie es Angelus Silesius ausspricht: 
Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben, 
Werd' ich zu nicht, er muß von Noth den Geist aufgebend 
Als Wille zum Leben erscheint uns das eigene Dasein in 
colossaler Größe: es ist alles in allem, das allein wirkliche Wesen, 
dem gegenüber die Individuen außer uns bloße Scheinwesen und 
Phantome sind. Die Bejahung des Willens zum Leben in dieser 
Allgültigkeit und Größe ist der Egoismus: die uneingeschränkte Be 
jahung des eigenen Willens, woraus nothwendig die Verneinung des 
fremden Willens folgt, die von dem letzteren als Unrecht gefühlt 
und abgewehrt wird. In dieser Abwehr besteht das Recht. 
Hieraus ergeben sich einige Folgerungen, welche Schopenhauer 
für wesentliche und originelle Bestimmungen seiner Rechtslehre erklärt: 
1. Unrecht und Recht verhalten sich, wie in unseren Empfindungs 
zuständen Unlust und Lust, Schmerz und Wohlsein: das Unrecht ist 
die positive, das Recht die negative Bestimmung, denn es besteht 
in der Negation des Unrechts; wenn dieses nicht wäre, würde jenes 
nicht sein. 2. Unrecht und Recht sind nothwendige Folgen aus der 
Bejahung des Willens zum Leben, also schon im menschlichen Natur 
zustände gegeben und nicht erst durch den Staat und die positive Ge 
setzgebung entstanden. Es giebt daher eine reine oder moralische Rechts 
lehre, deren Anwendung die positive ist oder sein soll. Die Sätze der 
moralischen Rechtslehre folgen aus dem Wesen des Willens, wie die 
geometrischen Sätze aus dem des Raumes. Demnach ist es falsch, 
wenn Hobbes gelehrt hat, daß Recht und Unrecht conventionell seien 
und erst aus dem Staat hervorgehen. 3. Der Wille braucht die Dinge 
und bringt dieselben in seinen Dienst, indem er sie bearbeitet und 
gestaltet: daher ist nicht die Besitzergreifung, wie Kant lehrt, sondern 
die Arbeit die Quelle des Eigenthums. 
i Die Welt als Wille u. s. f. II. Cap. XI/VII. S. 689 ff. Parerga II. 
Cap. VIII. § 116. S. 287.
	        
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