Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Das Elend des menschlichen Daseins und dessen Fortpflanzung. 417 
vieljähriger Krieg, der Brand und die Zerstörung Trojas, die Er 
mordung des Agamemnon, der Muttermord des Orestes u. s. f. 
Daß die Liebenden die Erfüllung des Gattnngszwecks für den 
Gipfel ihres persönlichen Glücks, für das Maximum aller individuellen 
Befriedigungen ansehen: darin besteht die Illusion, der Wahn, „die 
strahlende Chimäre", welche ihnen der Eros vorgaukelt, und die eben 
jenen blinden Jnstinct kennzeichnet, der das Wesen der Geschlcchtsliebe 
ausmacht. Der Generationsact ist „das punctum saliens des Welteies", 
die Concentrativn des Willens zum Leben, der Wille katexochen, was 
auch der Sprachgebrauch anerkennt und bezeugt, wenn es heißt: „Sie 
war ihm zu Willen". Der Zeugungsact contrahirt eine Schuld, welche 
das erzeugte Individuum zil büßen hat und durch seinen Tod bezahlen 
muß. Bon jedem Menschenleben gilt, was Shakespeare seinen Prinzen 
zu Falstaff sagen läßt: „Du bist der Natur einen Tod schuldig!" 
Daher jenes Schuld- und Schamgefühl, welches mit der Ausübung 
des Zeugungsactes unmittelbar zusammenhängt, durch die Wiederholung 
und Gewohnheit allmählich abgestumpft und zuletzt unfühlbar gemacht 
wird. Plinius in seiner Naturgeschichte nennt den Ursprung unseres 
Daseins «vitae poenitenda origo». Kein Gegenstand wird in der 
geselligen und gesitteten Welt so sorgfältig verhüllt und verheimlicht, 
keiner ist zugleich ein so beständiges und beliebtes Thema zweideutiger 
Redensarten, frivoler Anspielungen und Gespräche. Wenn die Hülle 
abfällt, so sehen wir den Hexensabbath auf dem Bloxberge vor uns, 
wie ihn Goethe in seinen höchst charakteristischen „Paralipomena zum 
Faust" ganz unverhohlen und offen geschildert hat. Was die Hexen 
und Teufel begehren, und was der Satan in seiner Thronrede ihnen 
vorpredigt, sind eitel Unzucht und Zoten? 
Wenn der Gattungszweck sich nicht in die Gestalt der Geschlechts 
liebe verlarvte und mit der unbezwinglichen Macht des Jnstincts seine 
Erfüllung bewirkte, wenn darüber die ruhige Besonnenheit, Prüfung 
und Erkenntniß zu entscheiden hätten, so würde die Fortdauer der 
Menschheit gefährdet sein. Die Erkenntniß ist es, welche uns den Weg 
zur Erlösung zeigt und das Quietiv bietet. Jedes neue Individuum, 
welches aus der Zeugung hervorgeht, trägt diese Quelle der Läuterung 
und des Heils in sich. Deshalb wirkt auch der Grund der Zeugung 
ganz anders als ihre Folge: jener besteht in den Lockungen der 
- Ebendas. II. Cap. XLV. @. 653. 
Fischer, Gesch. b. Philos, IX. 2, Stuft. N. A. ' 27
	        
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