Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Das Elend des menschlichen Daseins und dessen Fortpflanzung. 413 
vor unseren Augen abgesponnen hat, uns nicht ermüdet, sondern stets 
von neuem interessirt. In der That betrifft die Geschlechtsliebe, so 
weit die Bejahung des Willens zum Leben reicht, die höchsten und 
wichtigsten Zwecke des menschlichen Daseins. Die Liebenden find die 
Beauftragten der Gattung, sie führen deren Sache und find die Helden, 
welche der Eros braucht. Es giebt Klagen, deren sich auch der er 
habenste Held nicht schämt und zu schämen hat: das sind um ihres 
Gegenstandes willen die Liebesklagen. 
Gegenstand der Liebesklagen ist die Unerreichbarkeit oder der Ver 
lust des erwählten Individuums, der unersetzliche, alle anderen Leiden 
übersteigende Verlust, bei dem der Geist der Gattung vor Schmerz 
tief aufstöhnt. Noch peinlicher als der Verlust ist die Verschmähung, 
unter allen Qualen des Eros die ärgste. Selbst Mephistopheles kennt 
nichts Schlimmeres und nennt sie mit der Hölle zusammen: 
Bei aller verschmähten Liebe! beim höllischen Elemente! 
Ich wollt', ich wüßte was Aergeres, daß ich's fluchen könnte! 
Das unerreichbare Ziel bewegt und erfüllt die Liebesklagen Petrarcas. 
Solche Leiden verursacht der Eros, wenn er das Gemüth und die 
Einbildungskraft eines großen Dichters ergreift. Denn ihm gab ein 
Gott zu sagen, wie er leidet. Wenn Petrarca seine Laura erreicht und 
seine Sehnsucht befriedigt hätte, so würden seine Liebesklagen verstummt 
sein, gleich dem Gesänge der Vögel, wenn die Eier gelegt sind. 
Denn wie transscendent und erhaben die Gefühle der Geschlechts 
liebe auch sind und sein mögen, so ist doch ihr eigentliches Thema 
die Zeugungslust, die Befriedigung des Geschlechtstriebes mit dem er 
wählten Individuum, der übermächtige Wunsch, ihre Eigenschaften in 
einem neuen Individuum zu verschmelzen, das in den sehnsüchtigen 
Blicken, womit die Liebenden einander betrachten, sich schon ankündigt 
und ins Leben drängt. In dieser wechselseitigen erotischen Betrachtung 
meditirt der Genius der Gattung das künftige Geschlecht. „Die sämmt 
lichen Liebeshändel der gegenwärtigen Generation zusammengenommen 
sind demnach des ganzen Menschengeschlechts ernstliche meditatio eom- 
positionis generationis ■futuraö, i e qua iterum pendent innumerae 
generationes." „Es liegt etwas ganz Eigenes in dem tiefen, unbe 
wußten Ernst, mit welchem zwei junge Leute verschiedenen Geschlechts, 
die sich zum ersten male sehen, einander betrachten, dem forschenden und 
durchdringenden Blick, den sie auf einander werfen, der sorgfältigen 
Musterung, die alle Züge und Theile ihrer beiderseitigen Personen zu
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.