Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Das Elend des menschlichen Daseins und dessen Fortpflanzung. 409 
II. Die Fortpflanzung des menschlichen Daseins. 
1. Die Erblichkeit der Eigenschaften? 
Durch die Zeugung, welche die Keime von beiden Seiten zusammen 
bringt und vereinigt, wird nicht bloß das menschliche Dasein, der Typus 
der Gattung oder die Species propagirt, sondern auch die Eigenthümlich 
keiten der Individuen werden auf die Frucht übertragen, d. h. vererbt. 
Da nun das psychische Wesen des Menschen aus Wille und Jntellcct 
besteht, diese beiden aber, wie das Primäre und Secundüre, das Ur 
sprüngliche und das Hinzugekommene, wie der zeugende und der 
empfangende Theil sich zu einander verhalten, so gilt als das Grund 
gesetz der Vererbung: daß die Willensart, der Charakter, mit einem 
Wort die tnoralischen Eigenschaften väterlicher Herkunft sind, die 
intellectuellen dagegen mütterlicher. Man hat das Herz vom Vater, 
den Geist von der Mutter. 
Um dieses Gesetz in der Erfahrung bestätigt zu finden und den 
väterlichen Charakter in den Kindern wiederzuerkennen, muß man 
einerseits die Vaterschaft mit völliger Sicherheit kennen, andererseits 
die Einflüsse des Intellekts auf die Erscheinungsart und Handlungs 
weise des Charakters in Betracht ziehen; denn in den Kindern erscheint 
der väterliche Charakter verbunden mit dem mütterlichen Jntellcct, in 
diesem verkleidet und durch denselben gleichsam maskirt. Schopenhauer 
sucht diese seine Vererbungslehre durch eine Reihe weltkundiger Beispiele 
zu erhärten, indem er hinweist auf die heroischen Gesinnungen, die in 
römischen Geschlechtern fortgeerbt, auf die entsetzlichen Eigenschaften, 
welche die Claudier zu Tage gefördert, die in Nero, verbunden mit dem 
mütterlichen Jntellcct der „Mänade Agrippina" culminirt und von der 
Höhe seiner Weltstellung aus sich weithin sichtbar gemacht haben; auch 
das Geschlecht der Tudors, die Nachkommen Heinrichs VIII., dienen 
ihm zur Probe: in der „blutigen Maria" erscheint der väterliche 
Charakter, unveredelt durch mütterliche Eigenschaften, in der Elisabeth 
dagegen gemäßigt und veredelt durch die intellektuelle Mitgift ihrer 
begabten Mutter. 
Wenn man Väter und Söhne vergleicht, so erscheinen ihre in 
tellectuellen Charaktere grundverschieden: Väter von eniinenter Geistes 
begabung und Söhne von ganz gewöhnlicher, und ebenso umgekehrt. 
Wenn man dagegen Mütter und Söhne vergleicht, so zeigt sich 
> Ebenvas. II. Cap. XL1II. S. 591—607.
	        
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