Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

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Der Uebergang zur Ethik. 
Wirken giebt diese Beschaffenheit kund. Jeder Mensch handelt nach 
dem wie er ist, und die demgemäß jedesmal nothwendigen Handlungen 
bestimmen, für den individuellen Fall, allein die Motive." 
Der intelligible Charakter ist als grundloser Wille absolut frei, 
der empirischeist als Willenserscheinung durchaus unfrei, d. h. sein Wesen 
ist so und nicht anders geartet, darum ist er genöthigt, unter den ge 
gebenen Umständen und Motiven so und nicht anders zu handeln; 
wohl aber hätte sein Wesen ein anderes sein können, als es ist. 
Hieraus erklärt sich das Schuldgefühl, das Thema des Gewissens 
und der Gewissensangst: es handelt sich nicht um diese oder jene einzelne 
That, sondern daß wir so sind, wie wir sind. Unser Wesen ist die 
That des intelligiblen Charakters, des grundlosen Willens, der daher 
auch allein im Stande ist, sich und damit den empirischen Charakter 
von Grund aus zu ändern, d. h. den Willen zum Leben zu verneinen. 
Wird dieser bejaht, so bleibt der empirische Charakter, wie er ist, denn 
es giebt innerhalb desselben keine Willensänderung. 
Hieraus erhellt der Grundirrthum aller falschen Freiheitslehre: 
die moralische Freiheit liegt nicht, wo man sie immer sucht und zu finden 
wähnt, in den willkürlichen Handlungen, sondern, weit tiefer als alle 
Willkür, im Sein und Wesen des Menschen, nicht im operari, sondern 
im esse. Unsere Handlungen sind und müssen sein, wie unser Wesen, 
unsere Willensart, wir selbst: daher gilt der Satz: «operari sequitur 
esse». Dieses ist nun die wahre moraliche Freiheit, die dem tiefsten 
Grunde unseres Wesens inwohnt und auf der Höhe seiner Erscheinung, 
nämlich der vollkommensten Welt- und Selbsterkenntniß, entscheidet, 
ob die letztere als Motiv oder als Quietiv wirkt, oder, was dasselbe 
heißt, ob der Wille zum Leben bejaht oder verneint wird. Dieser 
Höhepunkt ist der einzige, auf dem die moralische Freiheit durchbrechen 
und zur Erscheinung kommen kann; es ist gleichsam der Punkt des 
Archimedes in der Moral. Die Willensfreiheit ist das erste, das Fun 
dament der Moral ist das zweite Grundproblem der Ethik. 
Es ist etwas in uns, das nicht stirbt: die Quelle unvergänglichen 
Lebens. Ebenso ist etwas in uns, das absolut frei ist, ursprünglich 
und eigenmächtig. Beides bezeugt sich unmittelbar in unserem Gefühl. 
Wir sind der Unvergänglichkeit wie der Freiheit unseres Wesens gewiß, 
aber die Auslegung dieser beiden unerschütterlichen Thatsachen des 
Bewußtseins ist irrig und falsch: die falsche Auslegung des Gefühls 
unserer Unvergänglichkeit ist die Lehre von der Persönlichkeit und
	        
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