Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Die Grundfrage und das erste Grundproblem der Ethik. 403 
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Daß scharfsinnige Männer durch tieferes Nachdenken sich von der 
falschen und herkömmlichen Freiheitslehre znm Determinismus bekehrt 
haben, will Schopenhauer durch die drei großen Beispiele des Spinoza, 
Voltaire und Priestley bestätigen. Was aber den Spinoza betrifft, so 
befindet sich Schopenhauer im Irrthum, wenn er in dessen Darstellung 
der cartesianischen Principien (1663) das Bekenntniß der Willensfreiheit 
gefunden haben will, da er in der Vorrede das ausdrückliche Gegen 
theil hätte lesen können? 
2. Die wahre moralische Freiheit. 
Innerhalb des empirischen Charakters ist die Freiheit nirgends 
anzutreffen. Trotzdem sind wir „die Thäter unserer Thaten" und 
fühlen uns als solche: wir fühlen uns schuldig unserer bösen Gesinnungen 
und Handlungen, und niemand entschuldigt seine böse That mit seiner 
angebornen Bosheit. Nicht obgleich, sondern weil uns die Gesinnungs 
art angeboren ist, weil sie keine Sache der Willkür, sondern die Be 
schaffenheit unseres Wesens ist, gerade darum wird sie als Schuld, 
und zwar als Urschuld empfunden. „Denn des Menschen größte 
Sünde ist, daß er geboren ward." Der empirische Charakter ist 
gewollt, er ist selbst Willensthat und Willensschuld: die That des 
intelligiblen Charakters. 
Die Thatsache des Schuldgefühls, welche die der Verantwortlichkeit 
oder Zurechnungsfähigkeit in sich schließt, ist der unerschütterliche Be 
weis der wahren moralischen Freiheit: diese nämlich ist der intelligible 
Charakter, der dem empirischen inwohnt, das Wesen desselben ausmacht 
und sich in der Zeitfolge seiner einzelnen Handlungen darlegt, weshalb 
Schopenhauer sagt, daß der intelligible Charakter sich zum empirischen 
verhalte, wie der Begriff zur Definition; denn jener enthält in un- 
getheilter Einheit, was dieser in der Reihenfolge und Summe seiner 
Handlungen entwickelt. In Wahrheit verhält sich der intelligible 
Charakter zum empirischen, wie das Ding an sich zur Erscheinung. Das 
Ding an sich ist der Wille, unabhäpgig vom Gesetze der Causalität: 
grundlos, zeitlos, ewig. Jede Erscheinung ist gebunden und ohne Aus 
nahme den Gesetzen der Nothwendigkeit unterworfen. „Jedes Ding 
wirkt gemäß seiner Beschaffenheit, und sein auf Ursachen erfolgendes 
1 Vgl. meine Geschichte der neuern Philosophie. (3. Aufl. 1890.) Bd. I. 
Th. II. Buch II. Cap. IX. S. 284ff. Vgl. die Welt als Wille u. s. f. II. 
Cap. L. S. 742.
	        
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