Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Die Grundfrage und das erste Grundproblem der Ethik. 399 
ist ein sehr grober, aber geläufiger Irrthum zu meinen, daß die ab- 
stracten, d. h. die bloß gedachten Motive weniger wirksam und stark sind, 
als die anschaulichen. Vielmehr sind sie bei weitem stärker. Wie sich 
der Vorstellungszustand erhöht, so erhöht sich auch die Erregbarkeit des 
Willens, die Stärke der Affecte, die Empfindung der Uebel: die Menschen 
leiden weit mehr und heftiger als die Thiere, die genialen Menschen 
leiden am meisten. Es ist weit leichter zu entbehren, als zu entsagen, 
denn die Entsagllng ist die Vorstellung aller künftigen, unwider 
ruflichen Entbehrungen. Wären die körperlichen Schmerzen nicht leichter 
als die geistigen, nämlich die Qualen, welche die Vorstellung der er 
littenen Uebel verursacht, so würden sich die Leute nicht jene zufügen, 
um diese zu erleichtern, nicht sich die Haare raufen, mit eigenen Händen 
sich zerschlagen, zerfleischen u. s. f. Wenn ein Kind sich wehe gethan 
hat, so kann man es leicht beruhigen durch die Versicherung, es sei 
nichts; wenn man es aber bedauert, so erhöht man seine Vorstellung 
des erlittenen Uebels und vergrößert seinen Schmerz. Eulenspiegel 
ging lachend bergauf und weinend bergab. 
Weil die Motive, die aus bloßen Gedanken bestehen, unsichtbar 
sind, so meinen die kurzsinnigen Menschen, daß sie schwach oder gar 
nicht vorhanden seien. Weil die Ziele entfernt und die Wege dahin 
weit sind, so halten die kurzsinnigen Menschen beide für nichtig oder 
für unsicher. Als ob Schwefelfäden oder Leitungsdrähte, welche die 
Mine in einem berechneten Zeitpunkte anzünden sollen, weil sie lang 
sind, darum unwirksam wären! 
Was nun die menschliche Willensfreiheit näher betrifft, so hat 
man die absolute oder unbedingte Freiheit, welche allein Freiheit ist 
im wahren Sinne des Worts, wohl zu unterscheiden von der bedingten 
oder relativen Freiheit, die, bei Licht besehen, mit der Nothwendigkeit 
unserer Zustände und Handlungen zusammenfällt. Es giebt, wie 
Schopenhauer unterscheidet, drei Arten bedingter, fälschlicherweise für 
unbedingt gehaltenen Freiheit: die physische (natürliche), die intellec- 
tuelle und die sogenannte moralische Freiheit. 
Die physische Freiheit ist die der Kraft oder des Könnens, sie 
besteht in der Abwesenheit aller der Hindernisse, welche die Ent 
faltung und Ausübung der Kraft hemmen. In diesem Sinne spricht 
man vow freiem Raume, freier Zeit, freiem Himmel, freier Luft u. s. f.; 
man nennt den Vogel in der Luft, das Wild im Walde frei, im 
Käfig unfrei. Das Dürfen ist ein durch Rechts- und Sittengesetze
	        
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