Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Die Grundfrage und das erste Grundproblem der Ethik. 395 
stattfindet und die Welt zeitweilig vergessen wird, so wird im Tode das 
Individuum selbst vergessen. 
Dieser unauflösliche Zusammenhang zwischen Zeugung und Tod 
ist so einleuchtend, daß er sich in den Gebilden der religiösen Phantasie 
ausgeprägt hat. Darum kennzeichnet die weiseste aller Mythologieen, 
die indische, Schiwa, den Gott der Zerstörung, durch das Halsband 
von Todtenköpfen und zugleich durch das Attribut des Lingam; darum 
sind auf den kostbaren Sarkophagen der Alten Feste und Hochzeiten, 
Bacchanalien und Jagden u. s. f. als Sinnbilder des unbändigen 
Lebensdranges dargestellt: die Natur lebt und zeugt fort, unberührt 
von dem beständigen Untergange der Individuen. Natura non 
contristatur! 
Es ist vollkommen gewiß, daß der Wille zum Leben, der sich in 
der Welt und ihren Erscheinungen darstellt, in jedem Individuum 
gegenwärtig ist, ganz und ungetheilt, grundlos und zeitlos, unabhängig 
von allen Unterschieden der Zeit, von Anfang und Ende, Entstehen 
und Vergehen, Zeugung und Tod. Dieses Bewußtsein lebt in uns. 
Wir sind vollkommen gewiß, daß etwas in uns ist, das nicht stirbt 
und von dem Untergange unseres individuellen Daseins unberührt bleibt. 
Aus der Sicherheit jenes Unterganges quillt die Todesfurcht, der llorror 
mortis; aus der Sicherheit dieser Unvergänglichkeit quillt der Lebens 
muth, womit wir unbekümmert leben und fortleben, als ob es keinen 
Tod gebe. Weder die Gewohnheit des Daseins noch die Ergebung in 
das unvermeidliche Schicksal erklären diesen ungedrückten Lebensmuth. 
Von beständiger Todesfurcht gequält, im Angesichte des unwiderruflichen 
Unterganges müßte uns zu Muthe sein, wie dem verurtheilten Ver 
brecher vor der Hinrichtung? So aber ist uns keineswegs zu Muthe. 
Der Wille, das Princip alles Daseins und Lebens, stirbt nicht; 
darin liegt die Bürgschaft für die Fortbeständigkeit der Welt im 
unaufhörlichen Wechsel der Generationen und der Geschlechter der 
Menschen. Wille und Wille zum Leben sind identisch. Es ist pleonastisch 
statt „Wille" zu sagen „Wille zum Leben" oder „Lebenswille". Und da 
der Wille, unabhängig von dem Satze des Grundes, der nur die Er 
scheinungen beherrscht, gründ- und zeitlos ist, so giebt es für ihn weder 
Vergangenheit noch Zukunft, sondern ewige Gegenwart. „Dem Willen 
ist das Leben gewiß, und zwar in der Form der Gegenwart." So 
S. oben Buch I. Cap. VII. S. 266. Parerga I. Aphorismen. Cap. VI. S. 515.
	        
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