Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

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Das Stufenreich der Künste. 
* Die Welt als Wille u. s. f. Bd. II. Cap. XXXIX. S. 515-519. - 
- S. oben Buch II. Cap. VI. S. 218-219. 
mit dem Zahlenbruch, der die Tactarten bezeichnet, die Verbindung 
mehrerer Tacte macht eine musikalische Periode in ihren beiden gleichen 
Hälften, der steigenden oder anstrebenden, meistens zur Dominante 
gehenden, und der sinkenden, beruhigenden, den Grundton wieder 
findenden; zwei oder auch mehrere Perioden bilden einen Theil, zwei 
Theile ein kleines Musikstück oder den Satz eines größeren: aus drei 
Sätzen besteht das Concert oder die Sonate, aus vieren die Symphonie, 
aus fünfen die Messe. Durch eine solche symmetrische Eintheilung und 
abermalige Theilung durch die Nebenordnung, Unter- und Ueberordnung 
seiner Theile baut sich das Tonwerk auf, einem Werke der schönen 
Architektur vergleichbar. Was bei dieser die Symmetrie ist, das ist 
beim Tonwerk der Rhythmus. Was die Symmetrie räumlich ist, das 
ist der Rhythmus zeitlich. Auf dieser Analogie zwischen Rhythmus 
und Symmetrie beruht die Vergleichung beider Künste, welche in dem 
Stufenreich der Künste die äußersten Enden ausmachen; daher Goethe 
die Architektur „eine erstarrte Musik" genannt hat? 
Die Coincidenz der Schwingungen ist entweder consonirend oder 
dissonirend, je nachdem ihre Zahlenverhältnisse rationale oder irrationale 
sind. Die logische Erkenntniß dieser Zahlenverhältnisse ist arithmetisch, 
die sinnlich-akustische Wahrnehmung derselben ist musikalisch. Dies 
hatte Leibniz richtig erkannt, als er die Musik ein «exercitium arith- 
meticae occultum» nannte. Aber die Zahlenverhältnisse sind nicht 
das Object, sondern nur das Mittel der Darstellung, sie sind das 
Zeichen, nicht das Bezeichnete. Was dieselben als Tonverhältnisse 
bedeuten, das ist in der Erklärung der Musik die eigentliche meta 
physische Frage, das Räthsel, welches erst Schopenhauer gelöst hat: die 
Dissonanz ist das unmittelbare Abbild des mit sich uneinigen, 
widerstrebenden, unzufriedenen, die Consonanz dagegen das unmittelbare 
Abbild des mit sich einigen oder zufriedenen Willens. Solche Hemmungen 
und Befriedigungen in ihren zahllosen Graden, Nüancen und Ab 
wechselungen find unsere sämmtlichen Willenserregungen, die ganze 
innerste Geschichte unseres Herzens, alle nicht in Vernunfterkenntniß 
aufgelöste und aufzulösende Zustände unseres Bewußtseins, die wir 
als Gefühle erleben und bezeichnen? Daher nennt man mit Recht 
die Musik auch die Sprache des Herzens und der Gefühle. „Durch
	        
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