Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

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Das Stufenreich der Künste. 
höheren Töne, die aus dessen Nebenschwingungen entstehen und mit 
klingen, sobald er anklingt (sons harmoniques), jener ist gleichsam ihre 
Basis und Quelle. Es giebt keinen größeren Unterschied in der Natur 
der Dinge, als den Abstand zwischen den leblosen und den lebendigen 
Wesen, welche letztere insgesammt weiter von jenen entfernt sind, als 
von einander: daher auch der Baß von den höheren Stimmen weiter 
entfernt sein soll als diese von einander, und die sogenannte „weite 
Harmonie" ausdrucksvoller ist als „die enge". — Die völlig form- 
und qualitätslose Materie, d. i. die Materie ohne alle Kraft- oder 
Willensäußerung, ist unwahrnehmbar: so hat auch die Tiefe eine 
Grenze, über welche hinaus kein Ton mehr hörbar ist, so ist auch 
von dem tiefsten noch hörbaren Ton ein gewisser Grad der Höhe un 
zertrennlich. 
Die Stufenleiter der Welt vollendet sich in der Menschheit, sie 
besteht in dieser mit allen ihren Vorstufen oder, wie Schopenhauer 
sagt: sie ist „der Mensch mit seinem ganzen Gefolge". Es giebt nur 
eine einzige Kunst, welche dieses Thema in seinem ganzen Umfange 
darzustellen und auszuführen vermag: die Musik. Das Wesen der 
Welt (der Wille) offenbart sich in zwei, einander analogen und parallelen 
Gestaltungen: in den Gebilden der Dinge und in denen der Töne, 
in den Werken der Natur und in denen der Musik, aber beide sind 
von einander so unabhängig, daß die Musik sein könnte, auch wenn 
keine Welt wäre. 
Hieraus ergeben sich sogleich eine Reihe wichtiger und für Schopen 
hauers Musiklehre charakteristischer Folgerungen: er verwirft alle nach 
bildende, malende, rhetorische, von Texten und Handlungen abhängige 
Musik und läßt als echte Tonwerke nur die reine Instrumentalmusik 
gelten, deren Meisterwerke Beethovens Symphonieen sind. „Messe 
und Symphonie allein geben ungetrübten, vollen musikalischen Genuß." 
Die menschliche Stimme betrachtet er lediglich als Instrument. Wenn sich 
die Musik mit Gesang und Handlung verbindet, wie in der Oper, 
so gilt ihm diese überhaupt für kein Erzeugniß des reinen Kunstsinnes, 
sie möge auf einen Act und auf die Dauer einer, höchstens zweier 
Stunden beschränkt werden. Die völlige Abhängigkeit sei auf der 
Seite des Textes, dem in keiner Weise eine dominirende Bedeutung 
zukommen dürfe, weshalb Rameaus Neffe in dem Diderotschen Ge 
spräch ganz Recht habe, wenn er für einen Operntext bedeutungslose 
und geradezu fade Verse fordere.
	        
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