Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

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Das Stufenreich der Künste. 
lieb", „Des Wandrers Nachtlied", „Des Schäfers Klagelied" u. s. f. 
„Da oben auf jenem Berge, da steh ich tausendmal" u. s. f. „Im 
Felde schleich ich still und wild" u. s. f. „Ueber allen Gipfeln ist 
Ruh" u. s. f. Das Gefühl für die Natur und die Zusammenstimmung 
mit ihr hat Byron, wie er sie in sich erlebt hat, ausgesprochen: „Nicht 
in mir selbst leb ich allein, ich werde ein Theil von dem, was mich 
umgiebt, und mir sind hohe Berge ein Gefühl". 
Die Schilderung des bedeutsamen Menschenlebens in Begebenheiten, 
Handlungen, Charakteren ist das Thema der erzählenden Dichtung, 
die von der Romanze und dem Idyll zum Epos und Roman fort 
schreitet. Schopenhauer hat treffend bemerkt, daß Romanze und Ballade 
noch lyrisch bedingt sind, durch eine Stimmung, welche aus der zu er 
zählenden Begebenheit hervorgeht und darum den Grundton ausmacht, 
womit das Gedicht beginnt; er hätte als Beispiele Goethes „Fischer", 
vor allen aber Bürgers unübertreffliche Balladen „Lenore", „Des Pfarrers 
Tochter von Taubenhain" u. a. anführen sollen. 
Als die vier bedeutendsten Romane, die er dafür hält, nennt 
Schopenhauer den Don Quixote, Tristrain Shandy, die neue Heloise 
und Wilhelm Meister, ohne näher in ihre Charakteristik einzugehen. 
3. Die Tragödie. 
Die dramatische Poesie ist weit umfassender und tiefer als die 
Künste, welche wir kennen gelernt haben: ihr Thema ist das Wesen 
und Dasein des Menschen oder, was dasselbe heißt, die menschlichen 
Charaktere und Schicksale, denn in dem Charakter oder der Willens 
art, die sich in Gesinnungen und Handlungen offenbart, besteht das 
Wesen des Menschen, sein Dasein aber ist von dem Weltlauf oder 
Schicksal abhängig und durch dasselbe bestimmt. 
Um dieses ihr Thema in der anschaulichsten und erkennbarsten 
Weise auszuführen, braucht die dramatische Dichtkunst bedeutsame 
Charaktere und Situationen. Wie der Chemiker seine Stoffe nöthigt, 
alle ihre Eigenschaften zu äußern, indem er Reagenzien auf dieselben 
einwirken läßt, so muß der dramatische Künstler seine Charaktere in 
solche Situationen bringen, die ihre Eigenschaften hervorrufen und 
kenntlich machen. Wie sich der Architekt zu der schweren und starren, 
der Wasserkünstler zu der schweren und flüssigen Masse verhält, so muß 
sich der dramatische Künstler zu den menschlichen Charakteren Verhalten. 
Im gewöhnlichen Leben sehen wir das Wasser im Teich, Bach und Fluß.
	        
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