Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Das Genie und die Kunst. 
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tyrerthum des. Genies daraus hervorgehen, wie es Goethe in seinem 
Tasso unübertrefflich geschildert hat? 
4. Genialität und Wahnsinn. 
Diese Schilderung und das Original seiner eigenen Gefühle und 
Schicksale hatte Schopenhauer vielleicht etwas zu nah vor Augen, als 
er seine Charakteristik des Genies gab. Es ist wohl das Beispiel des 
wirklichen, von Anfüllen des Wahnsinns heimgesuchten Tasso gewesen, 
welches den Philosophen veranlaßt hat, den Zusammenhang zwischen 
Genialität und Wahnsinn zum Thema einer Erörterung zu machen, 
worauf er öfter zurückkommt. Zwar redet er nur vom Goetheschen 
Tasso, aber dieser wurde nicht vom Wahnsinn, sondern in den Schluß 
scenen nur von einem ungezügelten Ausbruch der Leidenschaft ergriffen, 
aus der ihn sein Genius rettet und darüber erhebt. Diese Rettung 
hat Goethe geschildert? 
Schopenhauer gedenkt auch des „holden Wahnsinns", wie man 
den dichterischen Enthusiasmus genannt hat, jener Geistesabwesenheit, 
von der Goethes Tasso sagt: „Abwesend schein' ich nur, ich bin entzückt!" 
— aber sein eigentliches Thema ist der schreckliche, tragische Wahnsinn, 
der die Vernunft verfälscht und aufhebt. Die Geisteskrankheit ist 
Gehirnkrankheit und bedarf der psychiatrischen Erkenntniß und Be 
handlung. Ohne dieser in den Weg zu treten, beschränkt sich Schopen 
hauer auf die psychologische Erklärung. Die Grundlage aller geistes- 
gesunden Denkart und Besonnenheit bestehe in dem fortbeständigen 
Zusammenhang unserer Lebenserfahrungen und Vorstellungen, der wohl 
lückenhaft erleuchtet sein kann, so daß wir stellenweise uns der ein 
zelnen Glieder nicht mehr erinnern, aber nicht zerrissen werden darf, so 
daß ein Stück unseres Lebens in der Erinnerung uns völlig abhanden 
kommt. Der Zusammenhang aber zwischen unserer Gegenwart und 
Vergangenheit beruht auf der Rückerinnerung oder dem Gedächtniß. 
Wenn der Faden des Gedächtnisses zerreißt und die Möglichkeit der 
sachgemäßen Verknüpfung aufgehoben ist, so sind wir uns selbst abhanden 
gekommen und im Zustande derjenigen Geistesabwesenheit, welche den 
Wahnsinn zum Grund und zur Folge hat, denn die Lücke will gerissen 
und ausgefüllt werden. Beides thut der Wahnsinn. 
* Vgl. meine Goethe-Schriften III. Goethes Tasso. S. 322—358. — 2 Die 
Welt als Wille u. s. f. I. § 36. S. 217-224. II. Cap. XXX und XXXI. 
S. 429-455. Vgl. Parerga II. Cap. XIX. ZA 210 und 214.
	        
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