Das Genie und die Kunst.
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tyrerthum des. Genies daraus hervorgehen, wie es Goethe in seinem
Tasso unübertrefflich geschildert hat?
4. Genialität und Wahnsinn.
Diese Schilderung und das Original seiner eigenen Gefühle und
Schicksale hatte Schopenhauer vielleicht etwas zu nah vor Augen, als
er seine Charakteristik des Genies gab. Es ist wohl das Beispiel des
wirklichen, von Anfüllen des Wahnsinns heimgesuchten Tasso gewesen,
welches den Philosophen veranlaßt hat, den Zusammenhang zwischen
Genialität und Wahnsinn zum Thema einer Erörterung zu machen,
worauf er öfter zurückkommt. Zwar redet er nur vom Goetheschen
Tasso, aber dieser wurde nicht vom Wahnsinn, sondern in den Schluß
scenen nur von einem ungezügelten Ausbruch der Leidenschaft ergriffen,
aus der ihn sein Genius rettet und darüber erhebt. Diese Rettung
hat Goethe geschildert?
Schopenhauer gedenkt auch des „holden Wahnsinns", wie man
den dichterischen Enthusiasmus genannt hat, jener Geistesabwesenheit,
von der Goethes Tasso sagt: „Abwesend schein' ich nur, ich bin entzückt!"
— aber sein eigentliches Thema ist der schreckliche, tragische Wahnsinn,
der die Vernunft verfälscht und aufhebt. Die Geisteskrankheit ist
Gehirnkrankheit und bedarf der psychiatrischen Erkenntniß und Be
handlung. Ohne dieser in den Weg zu treten, beschränkt sich Schopen
hauer auf die psychologische Erklärung. Die Grundlage aller geistes-
gesunden Denkart und Besonnenheit bestehe in dem fortbeständigen
Zusammenhang unserer Lebenserfahrungen und Vorstellungen, der wohl
lückenhaft erleuchtet sein kann, so daß wir stellenweise uns der ein
zelnen Glieder nicht mehr erinnern, aber nicht zerrissen werden darf, so
daß ein Stück unseres Lebens in der Erinnerung uns völlig abhanden
kommt. Der Zusammenhang aber zwischen unserer Gegenwart und
Vergangenheit beruht auf der Rückerinnerung oder dem Gedächtniß.
Wenn der Faden des Gedächtnisses zerreißt und die Möglichkeit der
sachgemäßen Verknüpfung aufgehoben ist, so sind wir uns selbst abhanden
gekommen und im Zustande derjenigen Geistesabwesenheit, welche den
Wahnsinn zum Grund und zur Folge hat, denn die Lücke will gerissen
und ausgefüllt werden. Beides thut der Wahnsinn.
* Vgl. meine Goethe-Schriften III. Goethes Tasso. S. 322—358. — 2 Die
Welt als Wille u. s. f. I. § 36. S. 217-224. II. Cap. XXX und XXXI.
S. 429-455. Vgl. Parerga II. Cap. XIX. ZA 210 und 214.