Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Der Primat des Willens. 
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Wille zum Leben ist auch der Wille zur Fortpflanzung des Lebens: 
daher der Geschlechtstrieb der Brennpunkt des Willens ist und die Aus 
wahl zu seiner Befriedigung, d. h. die Geschlechtsliebe eine Haupt 
angelegenheit des Willens; deshalb nennt man die Liebesgeschichten 
aUairss du coeur, die Ehe einen Bund der Herzen u. s. f. Nicht 
mit dem, was wir denken, sind wir identisch, sondern mit dem, was 
wir wollen, wünschen, begehren. Wo unser Schatz ist, da ist unser 
Herz. Wir sagen von einem schlechten Menschen: „Er hat ein schlechtes 
Herz". Es heißt: „Ich hänge mein Herz an die Sache, es geht mir 
von Herzen, es giebt mir einen Stich ins Herz" u. s. f. Herz und 
Kopf sind der ganze Mensch, der Kopf ist „die höchste Efflorescenz 
des Leibes", woraus die Früchte des Geistes hervorgehen, während aus 
dem Willensdrange die Thatkraft entspringt: darum balsamirt man 
das Herz der Helden, während man von den Künstlern, Dichtern und 
Denkern die Schädel aufbewahrt. 
4. Die Identität der Person. 
Man spricht von der Identität der Person, und die Philosophen 
haben sich eine schwierige Frage daraus gemacht, worin dieselbe eigent 
lich besteht? Weder die Materie noch die Form des Leibes können sie 
ausmachen, da sich beide unaufhörlich verändern. Auch daß jeder sein 
eigenes Leben vorstellt und sich desselben bewußt ist, macht noch nicht 
die Identität der Person, denn das Bewußtsein erleuchtet seinen Lebens 
lauf nur theilweise, und viele Partieen desselben sind in seinem Ge 
dächtnisse verdunkelt. Es muß in unserem Wesen etwas geben, das in 
allem Wechsel des Lebens sich gleich und unveränderlich dasselbe 
bleibt: dieses ist unser Wille. Daß wir uns desselben als unseres 
unveränderlichen Wesens bewußt sind: darin allein besteht die Identität 
der Person. 
Wille und Wille zum Leben sind identisch: erst Lebenwollen; 
auf der höchsten Stufe des organischen Lebens geht aus dem Leben 
wollen das Erkennenwollen hervor; auf der höchsten Stufe der mensch 
lichen Erkenntniß folgt aus der Vernunft die Einsicht in den Unwerth 
des Lebens. Der Wille hat den Primat. Sein Wahlspruch heißt 
trotz der Erkenntniß des Gegentheils: leben ist unter allen Umstünden 
besser als nicht leben, leben um jeden Preis! Daher die colossale An 
hänglichkeit an Dasein und Leben, die überschwengliche Todesfurcht, 
der horror mortis, der den Grundton der tragischen Affecte ausmacht 
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